Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Äußeres als auch durch die Dinge, die sie sagte.
»Meine traurige Grazie«, flüsterte sie, als sie mit einer Hand über Sylvettes weißblonde Locken strich. So hatte Axelle sie schon früher genannt und als Sylvette sie fragte, wie sie das meinte, da hatte sie es ihr nicht nur mit Worten erklärt, sondern zahlreiche Photographien vor ihr ausgebreitet. Axelle handhabte die Kamera wie eine Künstlerin, und ihr Lieblingsmotiv waren die weinenden Skulpturen auf den großen Friedhöfen Europas.
»Ich habe dich so viele Male photographiert«, hatte Axelle gesagt und Sylvette damit gehörig verwirrt, »aber niemals habe ich dich atmen gesehen, sprechen gehört oder den Duft deiner Haut gerochen.« Damals kannten sie einander gerade einmal
wenige Minuten, aber Sylvette war bereits jenseits aller Empörung. Plötzlich wollte sie glauben, dass die rothaarige Fremde wusste, wie sie roch. Sie schienen einander seit langer Zeit zu kennen, auf eine Weise, die intim und mehr als wundersam war.
»Ich besuche Friedhöfe und photographiere die steinernen Frauenfiguren auf den Gräbern«, hatte Axelle in jenem fernen Salon in Berlin erklärt. »Die weinenden Nymphen aus Marmor, die ihre Gesichter in den Händen vergraben und stumm um die Toten trauern. Die Musen der Verstorbenen in ihren verschlungenen Tüchern und Kapuzen, all die elegischen Schutzengel, die nicht mehr über die Lebenden, sondern die Träume der Toten wachen. Ich habe immer gedacht, sie seien einzigartig in ihrer Schönheit und Verletzlichkeit. Aber jetzt weiß ich, dass ich immer nur nach dir gesucht habe. Als wärst du es gewesen, die den Bildhauern Modell gestanden hat. Alles was ich je in ihnen gesehen habe, das sehe ich jetzt vor mir stehen, nicht mehr aus Stein, sondern mit einem schlagenden Herzen in der Brust.«
Und als Sylvette sie mit offenem Mund angestarrt hatte, unfähig, etwas zu erwidern, da hatte Axelle plötzlich lachend hinzugefügt: »Wenn du mich jetzt für eine hoffnungslose Romantikerin hältst, so hast du recht. Wenn du glaubst, dass ich eine gefährliche Verrückte bin, dann stimmt wohl auch das. Aber wenn du denkst, dass mich das davon abhalten könnte, dich zu küssen, dann lass dir gesagt sein, dass ich nicht über all diese Friedhöfe gestreift bin, immer auf der Suche nach dir, um mich jetzt abweisen zu lassen.«
Sylvette hatte den ersten Kuss geduldet, den zweiten genossen und beim dritten jeden Widerstand aufgegeben.
Und nun war Axelle hier, stand neben ihrem Gepäck auf dem Landungssteg, in dem einen Koffer die kostbare Kamera, im anderen unvermeidlich exquisite Haute Couture, und schien nicht ganz von dieser Welt zu sein.
»Die Diener kümmern sich um das Gepäck«, sagte Sylvette, nahm Axelle bei der Hand und führte sie durch die Schatten der Zypressen ins Schloss und in ihr Leben.
Sie liebten sich vor dem Essen und abermals in den Stunden danach.
Als der Abend dämmerte, stiegen sie gemeinsam die enge Holztreppe zum Dachgarten hinauf. Vor der Tür mit dem Pelikanrelief blieb Sylvette stehen, schaute über die Schulter zu Axelle und sagte: »Wenn ich früher hier raufgegangen bin, habe ich mich wie eine Fremde gefühlt, wie jemand, den das nichts angeht. Heute hab ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ein Teil davon auch mir gehört und ich damit tun kann, was ich will.«
Axelle lächelte inmitten ihres roten Haars. Sylvette hatte sie gebeten, es nicht wieder hochzustecken, sondern offen über die Schultern fallen zu lassen. Axelles Hand berührte von hinten Sylvettes Hüfte, glitt hinauf zu ihrer Taille, wanderte langsam nach vorn und legte sich auf ihren flachen Bauch. Dabei trat sie ganz nah an Sylvette heran, als wollte sie einfach in sie hineingehen und eins mit ihr werden.
»Du musst mir keine Geheimnisse offenbaren«, flüsterte Axelle an ihrem Ohr, »denn das größte Geheimnis dieses Ortes kenne ich schon. Dich.«
Sylvette blieb einen Moment stehen und genoss die Berührung, dann legte sie eine Hand auf die Türklinke. Das Glashaus auf dem Dach, Nestors Alchimistenküche und seine Bibliothek – das alles gehörte auch ihr. Sie war nicht zu jung, nicht zu unwissend, nicht mehr nicht Aura genug , um diesen Ort zu betreten. Sie hatte jedes Recht, hier zu sein, und sie konnte mitbringen, wen immer sie wollte.
Es war warm und ein wenig stickig im Dachgarten, aber nie so schwül, wie man es angesichts all dieser Pflanzen hätte erwarten
können. Durch die Belüftungsschächte wehte Meeresluft herein und
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