Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
drehte sie sich zu ihm um. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Genau das hast du aber gemeint.« In seinen Augen hatte sie Wut erwartet, vielleicht sogar Hass. Stattdessen fand sie Enttäuschung und eine tiefe Traurigkeit. »Du hast mir nie verziehen, was ich getan habe«, sagte er. »Und das ist in Ordnung, denn es gibt keine Entschuldigung dafür. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht daran denken muss. An diese Menschen, die in Uruk gestorben sind. An Tess’ Blicke, als sie die Wahrheit erkannt hat. Aber das ist zehn Jahre her. Ich hab mich seitdem verändert.«
»Das weiß ich und —«
»Und trotzdem glaubst du, dass sie mich schon wieder benutzt haben, um an dich ranzukommen. Erst an ihn« — er deutete auf Gillian – »und dann an dich. Denn letztlich bist du die Einzige, die zählt, nicht wahr?« Er wandte sich von ihr ab, trat vor eine seiner Staffeleien, presste aus einer Tube schwarze Farbe
auf die Palette und begann, das halbfertige Motiv mit breiten Pinselstrichen zu übermalen.
Sie wollte nicht mit ihm streiten, schon gar nicht nach allem, was sie in der vergangenen Nacht gemeinsam durchgemacht hatten. Stattdessen ging sie zu ihm, zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich herum und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sein Haar roch noch immer nach fremdem Blut. »Ich finde es heraus«, versprach sie ihm. »Die ganze Wahrheit. Wer dahinter steckt und welche Gründe er hat. Pass du auf Gillian auf und sieh zu, dass er wieder auf die Beine kommt.«
Wortlos wandte er sich um und setzte wieder den Pinsel auf das Bild.
»Ich kann nicht ändern, was ich bin oder was Gillian ist«, sagte Aura. »Ich hab mich daran gewöhnen müssen, dass es Menschen gibt, die der Neid zu meinen Feinden macht. Aber ich werde mich nicht verstecken und diese Leute damit durchkommen lassen.« Sie verstummte, kehrte zurück ans Bett und beugte sich über den bewusstlosen Gillian. »Falls sich an seinem Zustand bis heute Abend nichts geändert hat, ruf besser doch einen Arzt.« Sie küsste Gillian auf die spröden Lippen, strich ihm zärtlich übers Haar und versuchte den Schmerz auszublenden, den sie bei seinem zerschundenen Anblick empfand.
Als sie zu ihrem Koffer neben der Wohnungstür ging, fragte Gian in ihrem Rücken: »Wie hältst du es nur aus, unsterblich zu sein?«
»Ich lebe einfach. Nur länger als andere.«
»Ich wäre lieber tot, als das bis in alle Ewigkeit zu ertragen.«
Sie nickte. »Ich weiß.« Es kostete sie Überwindung, den Koffer aufzuheben und die beiden zurückzulassen, aber sie konnte nichts mehr tun.
»Warte«, sagte Gian.
Langsam blickte sie von ihrem Gepäck zu ihm auf. Er hatte
einen Schritt zur Seite gemacht, aber sie brauchte einen Moment, ehe sie begriff, dass er ihr etwas zeigen wollte.
Auf der Leinwand bildeten die schwarzen Pinselstriche ein Muster, das sie nur zu gut kannte.
»Du hast das hier gezeichnet«, sagte Gian, »gestern Abend, als wir geredet haben. Wieder und wieder auf den Rand der Zeitung da drüben.« Er deutete auf eine zerlesene Ausgabe des Figaro auf dem Boden neben dem Korbstuhl. Aura hatte darauf herumgekritzelt, ohne sich etwas dabei zu denken.
»Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat«, sagte sie leise. »Falls es dir darum geht.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. »Aber ich weiß es.«
Sie setzte den Koffer wieder ab.
»Wo hast du es entdeckt?«, fragte er.
»In der alten Standuhr im Schloss. Und auf Nestors Schreibtisch in seiner Bibliothek. Es sind Buchstaben, nehme ich an. Initialen, vielleicht, in eine simple grafische Form gebracht.«
»Ich hab so was hier in Paris schon öfter gesehen, gerade in letzter Zeit. Nicht genau dieses Symbol, aber ganz ähnliche.«
Sie starrte ihn verwundert an und spürte, wie ihr Kummer und das, was ihr hätte wichtig sein sollen, von ihrer Neugier verdrängt wurden. »Verrat’s mir.«
»Magie.«
Zweifelnd neigte sie den Kopf, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Es schien ihm ernst damit zu sein.
»Ein magisches Siegel«, erklärte er. »Man benutzt es, um sich Wünsche zu erfüllen. Breton und die anderen arbeiten mit solchen Techniken. Magie und Malerei, sogar Alchimie ... das ist alles eins, sagt er.«
»Wie genau soll das funktionieren?«
Gian begann, mit dem Pinsel unsichtbare Buchstaben zwischen ihnen in die Luft zu zeichnen. »Schreib dein Ziel oder deinen Wunsch auf ein Blatt Papier, so kurz und präzise wie nur möglich. Am besten als Aufforderung oder Befehl. Mach mich reich! Schenk mir
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