Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
schüttelte die Feuchtigkeit von den Blättern. Die Glasscheiben waren oft beschlagen, aber nicht heute Abend. Früher, zu Nestors Zeiten, hatten geöffnete Fenster in den Schrägen ausgereicht, um den Garten zu bewässern. Aura hatte darauf bestanden, Pumpen einzubauen, die das Wasser von den riesigen Schlossdächern gleichmäßig verteilten; seitdem war der Dschungel noch dichter und das Erdreich noch schwerer geworden, sodass Sylvette in mancher Unwetternacht befürchtet hatte, das Dachgeschoss könnte zusammenbrechen und das ganze Schloss unter sich begraben.
Wieder nahm sie Axelle bei der Hand und führte sie auf die freie Fläche, die Dickicht und Labor voneinander trennte. Durch die gläsernen Dachschrägen war der Abendhimmel zu sehen, violett und von feurigen Streifen durchzogen. An der Südseite stand das alte Sofa mit seiner geschwungenen Lehne, dem staubigen Samtbezug und vier schweren Holzfüßen in der Form stilisierter Löwenpranken.
Axelle ließ überwältigt ihre Hand los, drehte sich einmal um sich selbst, streifte das Alchimistenlabor mit einem flüchtigen Blick und wandte sich wieder dem verwobenen Pflanzenwall zu. Ihre sinnlichen Lippen waren zu einem feinen Spalt geöffnet, aber kein Wort drang hervor.
Sylvette ließ den Anblick für sich sprechen. Wo hätte sie mit den Erklärungen beginnen sollen? Sie hatte Axelle nicht hier heraufgebracht, um die Geschichte ihrer Familie vor ihr auszubreiten. Es ging ihr nur um Eindrücke dessen, was ihr Leben bestimmte, nicht um Jahreszahlen, um Namen oder eine Liste von Nestors Untaten. Sie öffnete lediglich ihren Alltag vor Axelle wie eine Zeitschrift, blätterte von einer Seite zur nächsten, ließ sie die Illustrationen betrachten, ohne sie mit den Artikeln zu langweilen. Schau, hier. Und hier. Und das hier auch.
Nach einer Weile nahm sie Axelle mit in Nestors Bibliothek, vorbei an den alten Versuchsanordnungen im Laboratorium, den matt gewordenen Glaskolben und Reagenzgläsern, dem erkalteten Ofen aus schwarzem Eisen und Mauerwerk.
Die schmale Tür zur Bibliothek im Dachgeschoss des Westflügels barg eine andere Welt, erfüllt von trockenen, spröden Gerüchen. Aus den Fenstergauben fiel das Abendlicht in Form zweier Fächer über den Boden, meterlang und voller Buchstabenschatten. Axelle wirkte noch beeindruckter als im Dachgarten, bat darum, an den Regalen entlangstreifen zu dürfen, betrachtete Buchrücken mit unleserlichen Schriftzügen, führte eine Fingerspitze über das Holz und sammelte Staub auf. Darüber mussten sie beide lächeln.
Schließlich endete der Rundgang zwischen den Fenstern, vor Nestors bekritzeltem Schreibtisch, an dem Sylvette selbst in den vergangenen Monaten viel Zeit verbracht hatte. Sie wollte verstehen, was Aura all die Jahre über hier oben getrieben hatte. Wie war ihre Schwester zu dem geworden, was sie heute war? Hätte Nestors Beispiel sie nicht abschrecken müssen? Und worin lag die Faszination einer Geheimlehre, wenn man doch das Ziel, dem alle Alchimisten seit Jahrhunderten nachjagten, längst erreicht hatte?
Axelle trat vor eines der Fenster und las im Flüsterton die Worte, aus denen sich die anagrammatischen Quadrate zusammensetzten, während die Dämmerung graue Lettern auf ihr schönes Gesicht projizierte.
»Satan adama tabat amada natas .« Aus Axelles Mund klang es wie eine Zauberformel.
»Das bedeutet gar nichts«, sagte Sylvette. »Es ist nicht mal eine echte Sprache.«
»Sprache ist es, sobald man es ausspricht«, entgegnete Axelle mit verschmitztem Lächeln. Sie verließ die Gaube, streifte Sylvette sanft im Vorbeigehen und trat vor das zweite Fenster.
Ihr Blick wanderte über die Buchstaben. Sylvette wartete darauf, dass sie auch diese Worte vorlas, aber Axelle sagte nur: »Das ist Latein.« Und verlor das Interesse daran.
Sie kehrte zurück zu Sylvette vor dem Schreibtisch, setzte sich auf den Rand und nahm sie bei den Händen, zog sie heran und küsste sie abermals lang und tief.
»Ich hätte dich niemals gebeten, mir das alles zu zeigen«, sagte Axelle nach einer Weile, während ihre Finger Sylvettes Körper durch den Stoff ihres weißen Kleides erkundeten. »Aber ich danke dir für dein Vertrauen und für deine Freundschaft.«
Sylvette nahm Axelles Gesicht zärtlich in beide Hände und betrachtete es wie eine Kristallkugel. Eine schmale, klassische Nase, hohe Wangenknochen, kleine Fältchen in den Augenwinkeln, die den Eindruck verstärkten, dass sie mehr gesehen hatte, als sie zugeben
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