Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
wollte. Da stand ein wenig Trauer in ihren grünen Augen, so als wäre sie mit einem Schicksal geboren, das sie nicht abstreifen konnte. Auflehnung, Humor, Abenteuerlust, gepaart mit dem größten denkbaren Widerspruch – Resignation. Sylvette kannte diese Haltung gut, und sie liebte Axelle nur noch mehr, weil sie dennoch so anders war, so lebendig, so widersprüchlich.
Ihre Hände wanderten an Axelles Wangen hinab, dem langen Hals, den zarten Schlüsselbeinen. Über Haut wie Porzellan.
»Ich möchte dir auch mein Haus zeigen«, sagte Axelle. »Lass uns gemeinsam dorthin reisen.«
»Ich gehe überall mit dir hin, das weißt du.«
Axelle glitt vom Rand der Schreibtischplatte, runzelte die Stirn, als ihre Finger das Holz berührten, und drehte sich langsam um. Sylvette folgte ihrem Blick über den Tisch mit seinen eingekerbten Inschriften.
»Jemand hat hier viel Zeit verbracht.« Axelle las bedächtig die einzelnen Worte, die Buchstaben und Zeichen. »Mit vielen seltsamen Gedanken.«
Sylvette lächelte. »Meine Schwester hat selten etwas anderes als seltsame Gedanken.« Nestor erwähnte sie nicht. Stattdessen fädelte sie eine Strähne aus Axelles roter Haarflut, führte sie an die Lippen und küsste sie.
Dann verließen sie die Bibliothek und gingen zurück in den Dachgarten unter seinem gläsernen Himmel. Violett und Rot verblassten allmählich, der Abendstern glitzerte im Dunkel.
Sylvette zog Axelle auf das Sofa an der Südseite. Sie war erfüllt von Stolz und Abenteuerlust. Das hier war neu und wunderbar für sie. Sie fühlte sich verstanden, fühlte sich geliebt. Die Welt stand ihr offen. Sie musste nur hinaustreten und mit beiden Händen aus ihrer neuen Freiheit schöpfen.
Hinter dem Glas wiegten sich die schwarzen Zypressenwipfel im Seewind wie Hohepriester unter spitzen Kapuzen. Beugten sich nach rechts, nach links, und blickten auf die Frauen herab, die ihre Kleider abstreiften und sich aneinander schmiegten, beide von geisterhafter Blässe.
KAPITEL 21
Mochte Paris sich auch als Hauptstadt aller Alchimisten feiern, so entpuppte es sich doch als arroganter Emporkömmling, setzte man einen Fuß auf das Pflaster des altehrwürdigen Prag.
Auch drei Jahrhunderte nach dem Tod von König Rudolf II., der in seinem Schloss über der Stadt Schwarzkünstler und Okkultisten beherbergt hatte, schlug an der Moldau das wahre Herz der Alchimie. In Paris mochten junge, blasierte Hermetiker in Cafés und lichtdurchfluteten Ateliers diskutieren; in Prag aber experimentierte man in unterirdischen Laboratorien und Bibliotheken, schürte mit rußigen Händen die Öfen, mied das Tageslicht und träumte den alten Traum vom Aurum Potabile in Kammern voller Kohlenstaub, Hitze und giftigem Blei.
Ohne Zweifel war Prag die graue Eminenz der Alchimie – umso kurioser fand es Aura, dass sie die Stadt zum ersten Mal besuchte.
Sie hatte ein Taxi vom Flugplatz in die Innenstadt genommen, aber anders als in Paris erschien es ihr bald falsch, ein so neuzeitliches Fortbewegungsmittel zu benutzen. Die Automobile, die auch hier längst die Straßen beherrschten, wirkten fremd in diesem Labyrinth alter Gassen, dämmeriger Höfe und bröckelnder Barockfassaden. Aura bat den Fahrer anzuhalten und ging das letzte Stück zu Fuß.
Ihr erster Weg führte sie weder zum Hotel Karmelitská, wo Tolleran vor einigen Monaten abgestiegen war, noch zum Varieté Nadeltanz. Stattdessen schleppte sie ihren Koffer bis an den Fuß des Pulverturms, des östlichen Tors zur Altstadt, eines gotischen
Gemäuers mit spitzen Türmen und kunstvollem Wandschmuck. Auf dem Platz davor kreuzten sich mehrere Straßen und die Schienen der Trambahn.
Nach kurzer Suche fand sie den einen, ganz bestimmten Bordstein, über den sie etwas in einer Schrift aus dem letzten Jahrhundert gelesen hatte: In seine Oberfläche war ein stilisierter Pelikan eingelassen, ähnlich dem Relief auf der Dachbodentür im Schloss, aber leichter zu übersehen.
Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie womöglich ein Phantom erwartete, dass derjenige, dem sie hier zu begegnen hoffte, nichts weiter war als ein Nachhall vergangener Tage: bestenfalls ein Gerücht, im schlimmsten Fall eine Lüge. Doch sie hatte sich während ihrer Beschäftigung mit der Alchimie schon auf vagere Angaben und dubiosere Zeugnisse verlassen. Darum stellte sie ihr Gepäck an der Bordsteinkante ab, setzte sich mit einem Seufzer auf den Koffer – und wartete ab, was geschehen würde.
Eine halbe Stunde
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