Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
die Bedenken ihrer Kunden zerstreute. »Wie auch immer – wir hörten davon, dass Sie in Prag sind und erfuhren, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind. Wir machten uns auf den Weg dorthin, trafen Sie nicht an und beschlossen, uns mit einem Spaziergang durch die Gassen die Zeit zu vertreiben. Zudem fördert es die körperliche Ausdauer und geistige Regsamkeit, ab und an die Schlossstiege hinaufzugehen. Hält man dabei ein gewisses Tempo und bringt das Blut in Wallung, wird —«
»Was Lucrecia sagen will«, wurde sie von ihrer Schwester unterbrochen, »ist, dass wir dachten, es wäre eine gute Idee, Sie wiederzusehen. Und Sie zu warnen.«
»Wovor?«
»Zum einen«, nahm Lucrecia den Faden wieder auf, »ist es vielleicht nicht allzu geschickt, der gesamten hermetischen Gemeinschaft der Stadt derart offen auf die Nase zu binden, dass Nestor Institoris’ Tochter nach Prag gekommen ist.«
»Das lag durchaus in meiner Absicht«, sagte Aura.
»Natürlich«, erwiderte Lucrecia. »Sie sind ja keine Idiotin.«
»Aber da ist noch etwas anderes«, sagte Salome. »Sie werden verfolgt. Von einer – nennen wir es Präsenz aus Ihrer Vergangenheit.«
»Einem Geist?«
»Wenn wir könnten, würden wir Ihnen darauf gern eine Antwort geben. Es mag etwas Entkörperlichtes sein oder jemand sehr Konkretes aus Fleisch und Blut. Oder eine Entität auf halbem Weg dazwischen.«
»Und für solche Aussagen bezahlen die Leute Sie?«
Salome lachte. »Mein Ektoplasma macht jeden schwach!«
Aura dachte an das Kind mit dem lahmen Bein. »Da war
noch jemand auf der Treppe, vorhin, kurz bevor Sie aufgetaucht sind. Könnte das diese ... Entität gewesen sein?«
Lucrecia sah zufrieden aus. »Schon möglich.«
»Wie hat er ausgesehen?«, erkundigte sich Salome.
»Es war ein kleines Mädchen. Ich bin ihm kurz zuvor schon begegnet, in einem Haus, in dem ich zu Besuch war. Wahrscheinlich ist es mir gefolgt, aber es müsste eine Abkürzung gekannt haben, sonst wäre es nicht plötzlich vor mir gewesen. Es hat gehinkt und war sicher —«
Noch während sie sprach, hatten die Schwestern einen wissenden Blick gewechselt, und nun fiel Salome ihr ins Wort: »Beschreiben Sie dieses Mädchen.«
»Klein. Schmal. Sehr zerbrechlich.«
»Kleidung?«, fragte Lucrecia.
»Ein weißes Kleid mit Puffärmeln. Am einen Bein hat es einen Kniestrumpf und eine Sandale getragen, aber an dem anderen, dem lahmen, nichts.«
Die Zwillinge stießen gleichzeitig leise Seufzer aus.
»Galathée«, sagte Salome.
»Das Gliederkind«, ergänzte Lucrecia.
»Was um alles in der Welt ist ein Gliederkind?«
»Die Leute nennen sie so, weil sie sich wie eine Marionette bewegt«, erklärte Salome, »mit dünnen, steifen Gliedern. Kaum einer hat sie je von Nahem gesehen. Die meisten nehmen gleich die Beine in die Hand, wenn sie ihr begegnen.«
»Was nicht allzu häufig vorkommt«, fügte Lucrecia hinzu.
»Angeblich taucht die Kleine dann und wann in den stillen Gassen auf, immer bei Nacht, und jagt den Leuten eine Heidenangst ein.«
»Übrigens sind wir gleich da.« Lucrecia deutete in eine schmale Straße, die zur Moldau hinabführte.
In vielen der Gassen am Ufer gab es Fuhrmannskneipen und Kaschemmen für die Flussschiffer, aber auch Nachtcafes, in denen
magere Mädchen reiche Geschäftsmänner abschleppten. Doch in dieser hier war es ebenso ruhig wie in den verwinkelten Straßen unterhalb des Hradschins. Verschwiegenheit lag in der Luft. In einigen Fenstern brannten rote Laternen, sonst war alles dunkel.
»Es ist das, wonach es aussieht«, sagte Salome. »Das Gute daran ist, dass niemand Fragen stellt. Hier können die Leute kommen und gehen, und keiner sieht ihnen ins Gesicht.«
»Preiswert ist es außerdem.« Lucrecia deutete zum Ende der Straße. »Dort ist es, das Haus an der Ecke.«
»Wir haben zwei Etagen gemietet, aber wir bewohnen nur die untere.«
»Was tun Sie mit der, die leer steht?«
»Es gibt gewisse Apparaturen, um dieses und jenes aus der Decke herabzulassen, eine Maschine für den Nebel, einen Generator, falls mal die Elektrizität ausfällt ... wegen der Lichter, Sie wissen schon. Die Leute kommen mit bestimmten Erwartungen. Es reicht längst nicht mehr aus, ihnen nur von dem zu berichten, was wir wirklich sehen.«
Aura blickte zu den dunklen Fenstern des Dachgeschosses hinauf. »Dann wohnen dort also die Geister.«
»Und ein paar Ratten«, sagte Salome.
KAPITEL 36
Als sie im rotplüschigen Wohnzimmer der Schwestern bei dampfendem
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