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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nur umschauen und versuchen, eine Erklärung für das zu finden, was Sie dort entdecken.«
    »Natürlich werden Sie nicht dasselbe erleben wie wir«, sagte Salome. »Ihre Vision könnte sehr viel deutlicher sein. Immerhin geht es hier um Ihr Schicksal, nicht um unseres. Ein wenig ist es wie bei einem Instrument, das zweimal dieselbe Melodie spielt – trotzdem weckt es in Ihnen vielleicht ganz andere Gefühle als in uns.«
    Aura konnte die Gesichter der beiden jetzt kaum noch erkennen. Verschwommene, herzförmige Flecken im Dunkelrot des Zimmers.
    »Das hätten Sie ... nicht ... tun dürfen ...«
    »Sie werden uns noch dankbar sein.«
    »Ganz sicher sogar.«
    Aura wollte widersprechen, aber aus ihrem Mund kamen keine Worte, sondern Wespen.
     
    Vor langer Zeit hatte sie einen Traum gehabt. Damals waren die Wespen zu Hunderten in ihren Körper eingedrungen. Auras Fleisch hatte sie eingesogen und aufgezehrt.
    Heute erfuhr sie, dass die Wespen noch immer in ihr lebten. Die ganzen Jahre über hatten sie in ihrem Inneren genistet, aus Hunderten waren Tausende geworden. Und nun drängten sie zurück in die Freiheit.

    Sie schoben sich durch ihre Kehle nach oben, wanderten auf winzigen Beinen über ihre Zunge und quollen über ihre Lippen. Sie schlüpften aus den Augenwinkeln, verließen ihr Nest durch die Tränenkanäle und krabbelten über ihre Augäpfel. Ein knisternder, sirrender Strom ergoss sich aus ihren Ohren den Hals hinab. Ihre Kleidung wölbte sich auf, als die Wespen aus ihrem Schoß explodierten und über die Innenseiten ihrer Schenkel strömten, um schließlich den Stoff zu zerbeißen und weiter ans Licht zu klettern.
    Aura war begraben unter wimmelnden Wespen, aber sie waren nicht der einzige Traum, der zu ihr zurückkehrte. Schwärme schwarzer Vögel kreisten über ihr, sammelten sich unter einem roten Himmel ohne Sonne, ohne Mond. Als Aura sie durch die Umrisse der Insekten auf ihren Augen kaum noch sehen konnte, stießen die ersten unter wildem Kreischen auf sie herab.
    Sie spürte, wie sich Krallen und Schnäbel in diesen lebenden Sarkophag aus Wespen gruben. Die winzigen Körper wurden fortgepickt und verschlungen, in Stücke gehackt und zerquetscht. Auras Haut wurde aufgerissen, tiefe Furchen klafften in ihrem Fleisch.
    Dann war die letzte Wespe gefressen, der letzte Vogel davongeflogen. Aura lag unter dem Scharlachhimmel und blutete aus tausend Wunden.
    Aber sie war nicht mehr allein, sondern lag auf einem Gipfel aus toten, nackten Körpern. Mädchen, fast noch Kinder, mit gemarterten Leibern und entstellten Gesichtern, Haut und Haar verklebt vom Blut, das durch die Schichten aus Körpern sickerte, tiefer hinab zum Fuß des Leichenberges. Waren das die Opfer, mit denen sich Nestor, Lysander und Morgantus über die Jahrhunderte hinweg ihre Unsterblichkeit erkauft hatten?
    Gequält blickte sie hinauf in den glutroten Himmel, dann
ruckte ihr Oberkörper in die Höhe. Dabei durchstieß sie mit Gesicht und Schultern das Firmament und fand sich wieder unter einem Steingewölbe in einem gemauerten Becken, gefüllt mit Blut.
    Von Grauen gepackt, schlug sie ihre Hände vors Gesicht, um nicht all die jungen Frauen sehen zu müssen, die rund um das Becken auf dem Rücken lagen. Aber da öffneten sich die lackierten Augen auf Auras Fingernägeln und sie erkannte die Umgebung mit ungleich größerer Klarheit, alle Eindrücke flirrend vervielfacht. Die Köpfe der Mädchen hingen nach hinten über den Beckenrand. Ihre Kehlen waren mit wütenden Schnitten zerfetzt worden, bis auch der letzte Tropfen aus den Wunden geflossen war und zähflüssig das Becken füllte.
    Aura saß im Zentrum dieses Trogs aus Tod, die glitzernde rote Oberfläche schwappte um ihre Brüste und zog Fäden zwischen ihren Fingern. Und dann tauchte vor ihr jemand empor, eine Frau mit langem Haar. Sie glitt aufrecht aus der blutigen Tiefe, ohne dass ein einziger Tropfen an ihren dunklen Gewändern haften blieb. Es war Innana, die unsterbliche Göttin von Uruk, die Schlange des Gilgamesch, die Schwarze Isis der Sierra de la Virgen.
    Und Innana wandte sich ihr zu und schien etwas zu rufen, aber kein Laut drang an Auras Ohr. Sie sah nur die Erregung in Innanas Gesicht, den aufgerissenen Mund, der sich wortlos bewegte wie der einer Filmdiva auf der Leinwand im Angesicht monochromer Schrecken.
    Hinter der Göttin geriet die Oberfläche in Wallung. Wogen bildeten sich, als etwas emporstieg, ein gigantischer Leib mit zerfurchter Haut und

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