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Die alte Jungfer (German Edition)

Die alte Jungfer (German Edition)

Titel: Die alte Jungfer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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versorgt, daß Jacquelin und Mademoiselle hofften, sie noch weitere zehn Jahre brauchen zu können. Das Tier war der Gegenstand fortwährender Unterhaltung und Beschäftigung: es schien, daß Mademoiselle Cormon, die ihre im Innern verschlossene Mütterlichkeit keinem Kinde zuwenden konnte, sie auf dieses glückliche Tier übertrug. Penelope hatte Mademoiselle daran gehindert, sich Zeisige, Katzen und Hunde anzuschaffen, dieses Surrogat einer Familie, das sich fast alle Wesen, die inmitten der Gesellschaft einsam sind, zulegen.
    Diese vier treuen Diener – denn die Intelligenz Penelopes hatte sich bis zu der guter Dienstboten erhoben, während sich die andern zu der stummen und unterwürfigen Regelmäßigkeit des Tieres erniedrigt hatten – verrichteten tagtäglich dieselben Beschäftigungen mit der Unfehlbarkeit eines Uhrwerks. Aber sie sagten, sie seien früher besser daran gewesen. Mademoiselle Cormon, wie alle Menschen, die mit großer Entschiedenheit von einer fixen Idee besessen sind, wurde weniger aus Charakteranlage als aus dem Bedürfnis, sich zu betätigen, wunderlich und zanksüchtig. Da sie ihre Sorge keinem Mann und keinen Kindern angedeihen lassen konnte, verlegte sie sich auf Kleinigkeiten. Sie sprach stundenlang über die unbedeutendsten Dinge, über ein Dutzend mit Z gezeichnete Servietten, die sie vor die mit O bezeichneten gelegt gefunden hatte.
    »Wo bloß Josette ihre Gedanken hat?« sagte sie; »Josette denkt an gar nichts.«
    Mademoiselle fragte acht Tage lang, ob Penelope um zwei Uhr ihr Futter bekommen habe, weil sich Jacquelin ein einziges Mal verspätet hatte. Ihre geringe Phantasie erging sich in Nichtigkeiten. Eine Staubschicht, die der Flederwisch vergessen, ein paar von Mariette schlecht geröstete Brotschnitten, das Versäumnis Jacquelins, die Fenster, auf welche die Sonne, schien, zu schließen, so daß die Möbel in Gefahr standen auszubleichen, all diese kleinen großen Dinge riefen ernste Auseinandersetzungen hervor, bei denen Mademoiselle heftig wurde. Alles wäre anders geworden! schrie sie. Sie erkenne ihre guten, alten Dienstboten nicht mehr; sie ließen nach, und sie wäre zu gut. Eines Tages gab ihr Josette den ›Tag des Christen‹ anstatt des ›Meßbuchs für die vierzehn Tage vor Ostern‹. Am Abend erfuhr dies Unglück die ganze Stadt. Mademoiselle war genötigt gewesen, aus Saint-Léonard wegzugehen, und ihr plötzlicher Aufbruch in der Kirche, wo sie alle Betstühle in Bewegung gebracht hatte, ließ Ungeheueres vermuten. Sie war also verpflichtet, ihren Freunden die Ursache dieses Mißgeschickes anzugeben. »Josette«, hatte sie mit Sanftmut gesagt, »daß so etwas nicht noch einmal vorkommt!«
    Ohne es zu wissen, war Mademoiselle Cormon sehr zufrieden über diese kleinen Vorkommnisse, denn sie dienten als Ventil für ihre verhaltene Bitterkeit. Der Geist hat seine Ansprüche; er bedarf wie der Körper einer Gymnastik. Diese wechselhaften Launen wurden von Josette und Jacquelin hingenommen wie die Schwankungen der Witterung vom Landmann. Diese drei Leutchen sagten: »Es ist schönes Wetter!« oder: »Es regnet!«, ohne den Himmel darum anzuklagen. Manchmal fragten sie sich des Morgens in der Küche, wenn sie aufgestanden waren, welche Laune Mademoiselle wohl heute haben würde, so wie ein Landmann nach den Nebeln des Frührots sieht. Mademoiselle Cormon war schließlich dazu gekommen, in den Winzigkeiten ihres Daseins sich selbst zu beschauen. Sie und Gott, ihr Beichtvater und ihre große Wäsche, die Früchte, die sie einzukochen hatte, die Messen, die sie hörte, und der Onkel, den sie pflegte, hatten ihre schwache Intelligenz vollkommen aufgesogen. Kraft einer Art des Sehens, die den von Natur oder durch Zufall egoistisch gewordenen Menschen eigentümlich ist, vergrößerten sich für sie die Kleinigkeiten ihrer Existenz. Der geringsten Störung in ihrem Verdauungsapparat wurde bei ihrer vollkommenen Gesundheit eine erschreckende Wichtigkeit beigelegt. Sie stand übrigens in medizinischen Dingen noch ganz unter der Zuchtrute unserer Voreltern und nahm viermal im Jahr zur Vorsicht eine Medizin ein, an der Penelope krepiert wäre, die sie aber erfrischte. Wenn Josette beim Auskleiden auf der noch atlasweichen Schulter von Mademoiselle ein Pickelchen fand, so gab dies zu minutiösen Nachforschungen über alle Nahrungssäfte der Woche Veranlassung. Was für ein Triumph, wenn Josette ihre Herrin an einen gewissen zu sehr gewürzten Hasenbraten erinnerte, der an diesem

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