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Die alte Jungfer (German Edition)

Die alte Jungfer (German Edition)

Titel: Die alte Jungfer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Cormon eine jener ungeheuerlichen Ausnahmen bildet, die als Typus hinzustellen einem der gesunde Menschenverstand verbietet; daß das tugendhafteste und einfältigste Mädchen, das sich einen Gründling fischen will, auch einen Köder für seine Angel findet. Aber diese Kritiken werden hinfällig, wenn man bedenkt, daß die erhabene katholische, apostolische und römische Religion in der Bretagne und dem alten Herzogtum Alençon noch in ihrer ganzen Kraft besteht. Der Glaube, die Frömmigkeit lassen diese Spitzfindigkeiten nicht zu. Mademoiselle Cormon wandelte auf den Wegen des Heils und zog die Leiden ihrer allzusehr verlängerten Jungfräulichkeit dem Unglück einer Lüge, der Sünde einer List vor. Bei einem Mädchen, das sich Kasteiungen auferlegte, konnte die Tugend nicht ins Wanken geraten, die Liebe oder die Berechnung müßte sich ihr schon mit sehr entschiedenem Auftreten nahen. Überdies haben wir den Mut, eine Bemerkung zu machen, die für eine Zeit, wo die Religion den einen nur noch ein Mittel, den andern Poesie ist, grausam genannt werden muß.
    Die Frömmigkeit verursacht eine Krankheit des moralischen Sehorgans. Sie raubt durch eine Gnade der Vorsehung den Seelen, die auf dem Wege zur Ewigkeit sind, das Gesicht für viele kleine irdische Dinge. Mit einem Wort: Die frommen Frauen sind in vielen Punkten dumm. Diese Dummheit beweist übrigens, mit welcher Kraft sie ihren Geist den himmlischen Sphären zukehren, obwohl der Voltairianer, Chevalier de Valois, behauptete, daß es außerordentlich schwer zu entscheiden sei, ob die dummen Mädchen von selber fromm werden, oder ob die Frömmigkeit die Wirkung habe, die klugen Mädchen dumm zu machen. Laßt es euch gesagt sein, daß die reinste katholische Tugend mit ihrer inbrünstigen Annahme jeder Schickung, ihrem demütigen Sichunterordnen unter das göttliche Gesetz, ihrem Glauben, daß der Finger Gottes dem Ton jedes Menschenschicksals seine Spuren aufpräge, das geheimnisvolle Licht ist, das sich in die letzten Spalten dieser Geschichte einschleichen und sie in ihren Wesenszügen deutlich erkennbar machen wird, was ihren Wert für alle, die noch Glauben haben, nur erhöhen dürfte. Außerdem, wenn es Dummheit sein sollte, warum soll man sich nicht ebensogut mit den Leiden der Dummheit wie mit den Leiden des Genies beschäftigen? Das eine ist ein soziales Element, das unendlich viel verbreiteter ist als das andere.
    Mademoiselle Cormon sündigte also in den Augen der Welt durch die himmlische Unwissenheit der Jungfrauen. Sie hatte gar keine Beobachtungsgabe, und ihr Benehmen gegen ihre Bewerber bewies dies zur Genüge. Selbst ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, das noch keinen Blick in einen Roman getan hätte, würde in den Blicken von Athanase hundert Liebeskapitel gelesen haben. Mademoiselle Cormon aber sah rein nichts darin und erkannte auch an dem Zittern seiner Stimme nicht die Kraft eines Gefühls, das sich nicht hervorwagte. Da sie selbst voller Scham war, erriet sie die Scham des andern nicht. Sie, die ehemals zu ihrem Verderben dazu fähig war, Verfeinerungen der Empfindsamkeit zu ersinnen, bemerkte diese bei Athanase nicht. Dieses seelische Phänomen wird die nicht wundernehmen, welche wissen, daß die Anlagen des Herzens ebenso unabhängig von denen des Geistes sind, wie die Fähigkeiten des Genies von den edlen Eigenschaften der Seele. Die vollkommenen Menschen sind so selten, daß Sokrates, der zu den kostbarsten Perlen der Menschheit gehört, mit einem Phrenologen seiner Zeit darin übereinstimmte, er sei von Geburt aus eigentlich ein rechter Spitzbube. Ein großer General kann in Zürich sein Vaterland retten und doch mit Lieferanten unter einer Decke stecken. Ein Bankier von zweifelhafter Ehrlichkeit kann Staatsmann werden, Ein großer Musiker kann entzückende Melodien erfinden und doch eine Fälschung begehen. Eine gefühlvolle Frau kann sehr dumm sein. Kurzum, eine fromme Christin kann eine sehr schöne Seele haben und taub sein für die Töne, die aus einer schönen Seele neben ihr kommen. Dieselben Launen, die von körperlichen Gebrechen herrühren, trifft man auch in der moralischen Welt, Diese gute Seele, die sich grämte, daß sie ihre Früchte nur für sich und ihren alten Onkel einkochte, war fast lächerlich geworden. Diejenigen, die wegen ihrer guten Eigenschaften, manche auch wegen ihrer Fehler, Sympathien für sie hatten, machten sich über ihre verfehlten Heiraten lustig. Man unterhielt sich oft darüber, was aus ihrem

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