Die Amazonen
Dass das Wunderwerk aus Hephaistos’ Werkstatt seinen Träger beschütze und vor allen verletzenden oder gar tödlichen Schlägen bewahre. Im Vertrauen auf den göttlichen Schutz und die eigenen Vorsichtsmaßnahmen lässt Achill den Freund ziehen und bleibt allein zurück.
Patroklos ahnt nicht, dass er genau nach Zeus’ Plan handelt, als er sich über Achills Weisung hinwegsetzt. Er hat die Troer in die Flucht geschlagen und dabei Blut geleckt, jetzt setzt er ihnen nach, hetzt sie über eine Geröllwüste zurück in Richtung der Stadt, fühlt sich so frei, so stark und siegesgewiss, bis sich ihm plötzlich Phoibos in den Weg stellt, der Gott des Schreckens, und ihn berührt. Augenblicklich erstarrt Patroklos, sieht auch noch Apoll, den Schutzgott der Troer, herbeieilen und weiß, er muss fliehen, aber er kann nicht. Hilflos steht er den Göttern gegenüber, spürt seine krampfenden Organe früher als die Bewegung, mit der Apoll ihm den Helm vom Kopf schlägt, die Waffen aus der Hand reißt und die Rüstung vom Leib zieht. Nackt steht er da, gerichtet für den Todesstoß, den die Götter Hektor überlassen.
Es ist ein wesentlicher Bestandteil von Zeus’ Plan, dass Hektor Patroklos tötet. Priamos’ Sohn ist ein Sterblicher von göttlichem Format, auf dem die Hoffnungen der Troer ruhen wie die der Griechen auf Achill. Es sind ebenbürtige Gegner, die aufeinander treffen werden. Zeus weiß, dass Achill nicht ruhen wird, bevor Patroklos gerächt ist. Und er weiß, dass Achill seinen ganzen Hass jetzt auf Hektor konzentrieren wird, weil er einfach in seinem |83| Denken und Fühlen ist. Zu dem, was er tut oder empfindet, kennt er keine Alternative.
So ist es auch jetzt. Achill hasst Hektor aus ganzer Seele, in der kein Platz mehr ist für den Streit mit Agamemnon. Fast gleichgültig versöhnt er sich mit diesem. Er bedauert, dass es zu der Auseinandersetzung kam, und wünscht sich im Nachhinein nicht etwa, anders reagiert zu haben, sondern dass Briseis gestorben wäre, bevor es zum Zerwürfnis wegen ihr kam.
Das ist sein altes Muster: Wenn er ein Problem hat, versucht er, es zu töten. Als Agamemnon ihn entehrte, wünschte er ihm und seinen Leuten, den Troern zu unterliegen. Einen Zusammenhang zwischen dieser Bitte an Zeus und dem Tod von Patroklos stellt er nicht her. Dass sein Freund einer von den vielen eigenen Leuten ist, die auf seinen Wunsch hin gestorben sind – diese Dimension begreift er nicht.
Er muss Hektor jagen, ihn stellen, er soll bluten für das, was er ihm angetan hat. Der Gedanke erregt ihn in seiner selbstzerfleischenden Trauer um Patroklos. Er hält ihn am Leben, dem er selbst schon ein Ende setzen wollte. Der Tod ist nah wie nie, und Achill sehnt ihn herbei. Erst soll Hektor von seiner Hand fallen, dann mag sich die Prophezeiung erfüllen und er selbst den Heldentod sterben. Achill weiß, dass er, wenn er Hektor tötet, den Troern den Vernichtungsschlag beibringen wird. Der alte König Priamos wird den Tod des Sohnes nicht verwinden. Seinen Leuten wird die Führung, die Mitte, die Kraft und Zuversicht fehlen. Wenn Hektor ausgeschaltet ist, werden die Griechen den Krieg um Troja gewinnen, und er, Achill, wird ihr Held sein. Sein Name wird unauslöschlich mit der Geschichte um den Trojanischen Krieg verbunden sein. Er wird unsterblichen Ruhm erringen.
Schon zerrt Achill an seinen sterblichen Hüllen. Er isst nicht mehr, trinkt nicht mehr, schläft nicht mehr, sitzt Tag und Nacht neben dem Freund und verscheucht die Fliegen von der Leiche, bis endlich Thetis kommt, dem Verwesenden Ambrosia in die |84| Nase träufelt und dem todgeweihten Sohn mit Götternahrung die Kraft zum Kämpfen gibt.
Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Noch einmal erinnert ihn Thetis an die Folgen seines Tuns: „Sehr bald nach Hektor ist dir das Ende beschieden.“ Und Achill erwidert ungeduldig, fast freudig, dass er seinen Tod erwartet, wann immer Zeus es vollenden will. Aber vorher drängt es ihn zum Ruhm, und noch einmal lächelt Thetis nachsichtig wie jede Mutter und mahnt ihn zur Geduld. Hat er vergessen, dass Patroklos seine Rüstung trug und Hektor sie geraubt hat? Achill soll warten, bis Hephaistos eine neue geschmiedet hat, es wird nicht lange dauern.
Der olympische Schmied übertrifft sich selbst und stellt mit dem neuen Kunstwerk seine vorherige Arbeit in den Schatten. War Peleus’ Rüstung, die Achill vormals trug, nach menschlichem Ermessen einmalig, so ist die neue Arbeit ein wahrhaft göttliches Werk. Sie
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