Die Amazonen
jedem Haus stand ein junges Mädchen und wartete, bis die Mutter es an der Hand nahm und einem der Männer zuführte, die sich draußen vor den Toren drängten. Dann schloss die Mutter das Tor wieder und sah von den Zinnen der Mauer herunter zu, wie zwei goldene Löwen sich auf das Mädchen stürzten und es zerrissen.
Jetzt wurde sie selbst vors Tor gestoßen. Einer der Löwen griff sofort an, sie fasste in seine Mähne, schleuderte ihn von sich und hielt einen goldenen Helmbusch in der Hand. Der Löwe erhob sich und kam wieder auf sie zu, es war ein Mann in goldener Rüstung. Er lächelte und strich ihr über das Haar. Seine Hände waren kräftig, aber schmal. Spielerisch wickelte der Mann eine Locke |87| um seine Finger, die Nägel bildeten ein schönes Oval, sie sah es deutlich, weil einer vom Bett bis zur Spitze dunkel umrandet war. Von Schmutz oder Blut? Sie schmiegte ihre Wange an seine Hand wie ein Vogel, der zum Schlaf seinen Kopf in den Flügel bettet, streifte den Handrücken mit den Lippen, küsste den dunklen Finger, leckte Blut und biss zu. Der Mann ließ ihr Haar los. Es stürzte ihr über Schultern und Brust, sie selbst in den Okeanos, der sie mitriss um die ganze Welt herum. Felder, Weiden und Wälder wirbelten an ihr vorbei, schneller als der Mann, der sie verfolgte. Über ihr stand der große Wagen, auf ihn schwang sich der Mann jetzt, die Pferde waren schnell wie das reißende Wasser. Die schäumende Gischt schlug über ihr zusammen, da zog er sie im letzten Moment heraus. Sie hing wie eine Taube in den Fängen eines Adlers, als plötzlich Boreas an ihrer Seite war, der Sturmwind, und ihr Pferd heranführte. Sie sprang auf, galoppierte frei, hielt ihren Bogen in der Hand und legte an. Schon war sie neben dem Wagen, in einer Hand hielt der Mann die Zügel, in der anderen den Speer, da kreuzte Helios ihre Bahn. Heller als die vorbeiziehende Sonne strahlte die goldene Rüstung auf, Tausende von Lichtblitzen durchzuckten sie, als der Mann ausholte und den Speer schleuderte. Sie sah ihn kommen und gab ihrem Pferd die Zügel, duckte sich tief neben seinen Hals, fasste die Leinen des Wagens und zog ihn mit sich hinunter. Sie fielen. Die Pferde, der Wagen, der Mann, sie selbst, ihre und seine Waffen, sogar die Rüstung fiel. Je mehr sich von ihnen löste, desto langsamer wurde der Sturz, bis er nur noch ein Schweben war. Dann setzte der Himmel die beiden sanft auf einer Waldlichtung ab. Und sie sah in den Augen des Mannes ein Lächeln, als hätten sie gerade nur gespielt. Das Lächeln wärmte seinen Blick, die Augen wurden dunkler vor Zärtlichkeit, mit dem blutigen Finger zeichnete er ihre Lippen nach: „Spiel mit mir!“ Sie lächelte. „Wer bist du?“ – „Achill“.
Plötzlich war Ares da, beugte sich zu seiner Tochter und flüsterte ihr ins Ohr: „Er ist deine Beute, der Beste von allen, ein Grieche, |88| der mit seinem Heer vor Troja steht. Ihn habe ich dir bestimmt, denn er allein ist deiner und der Tochter, die er dir geben wird, würdig. Geh jetzt und bewaffne dich, er wartet auf dich, denn ich ließ ihn wissen, dass du kommst.“ Ares reichte ihr die Hand, und Penthesilea erwachte glücklich in der Erinnerung an diesen Traum, der – sie war sich sicher – eine Verkündigung war.
Die Königin rief die Amazonen zusammen und teilte ihnen mit, dass Ares ihr ein Volk genannt habe, aus dem ihre Nachfolgerin stammen sollte. Unbeschreiblicher Jubel brandete auf, als Penthesilea die griechischen Helden vor Troja als Stammväter einer neuen Amazonen-Generation nannte. Die Amazonen hatten Lust auf diesen Krieg der Kriege, sie würden hinziehen, Töchter zeugen und endlich den Plan, Hippolyte zu rächen, in die Tat umsetzen. Allerdings sagte die Königin nichts darüber, dass Achill ihr verheißen war. Schließlich war es verboten, Männer anders als in beliebiger Mehrzahl zu sehen. Kein Heer, aber jeder Einzelne konnte die Gemeinschaft der Amazonen bedrohen. Also schwieg die Königin im Vertrauen darauf, dass sie trotz ihrer individuellen Partnerwahl dem Amazonengesetz treu blieb. Nicht sie, sondern Ares hatte die Entscheidung getroffen und seine Tochter eingeweiht. Wenn er den anderen nichts davon sagte, würde er Gründe haben.
Penthesilea übertrug der Vize-Königin die Pflicht und die Sorge um das Staatswesen, den zurückbleibenden Amazonen den Auftrag zur Sicherung des Territoriums und wandte sich mit den anderen nach Westen.
Gedankenverloren ritt sie voran. Wieder und wieder versetzte sie
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