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Die Amazonen

Titel: Die Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hedwig Appelt
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Unerwartetes. Während eines Pirschgangs kam die Königin in die Nähe einer kleinen Lichtung |91| und sah, wie eine ihrer Amazonen von einem großen Eber bedroht wurde. Er hatte sich vor ihr aufgebaut und scharrte angriffslustig, sodass Erde, Steine und Eicheln flogen. Die junge Amazone stand still, mit einer Hand den Schild vor sich haltend, mit der anderen die Lanze. Sie hatte Penthesilea entdeckt und erleichtert Blickkontakt aufgenommen. Die Königin nickte ihr zu und fasste in der gleichen Sekunde, in der sie einen Pfeil aus dem Köcher zog, einen entsetzlichen Plan. Die beiden Frauen waren allein. Es würde also keine Zeugen für ein einzigartiges Experiment geben. Hier war ihre Chance, schoss es Penthesilea durch den Kopf, das Erbeuten an einem lebendigen Menschen zu proben. Sie würde die Freundin nur so leicht verletzen, dass sie zur ihr auflächelte, wenn Penthesilea zur Hilfe geeilt kam. Alles würde so aussehen, als hätte ihr Pfeil sein Ziel verfehlt. Das kam immer einmal vor und konnte auch erstklassigen Jägerinnen wie ihr passieren. Wenn sie traf und die junge Frau hinsank, würde sie wissen, welche Entfernung sie mit welcher Kraft kombinieren musste, um einen Menschen unversehrt zu Fall zu bringen. Dann könnte sie auch Achill so fällen, dass er ihr einfach zu Füßen lag.
    Penthesilea schätzte die Entfernung, berechnete die Wucht des Aufpralls, spannte den Bogen und setzte den Schuss so, dass er den Schild der Amazone durchdringen, sie taumeln und stürzen lassen musste, aber sie nicht ernsthaft verletzte. Mit einem leisen Zischen schnellte das Geschoss vom Bogen und noch während es in der Luft war zog Penthesilea einen zweiten Pfeil, der für den Eber bestimmt war. Sie brauchte ihn nicht mehr. Die fallende Amazone hatte das angriffslustige Tier erschreckt und in die Flucht geschlagen, es verschwand im Dickicht des Eichenwaldes.
    Penthesilea ließ den Bogen fallen und rannte auf die Freundin zu. Sie kniete neben der Reglosen nieder, drehte sie zu sich um und sah, dass sie tot war. Der Schild war durchbohrt und die junge Frau ins Herz getroffen. Mit einem gellenden Schrei warf |92| sich Penthesilea über die Leiche, zog den Pfeil aus der Wunde, starrte auf die blutige Spitze, sah zu viel Blut, zu tief war die Waffe eingedrungen. Sie überschlug ihre Schätzungen, fragte sich, wieso sie sich so vertan hatte, als die anderen Amazonen herangeeilt kamen, die Königin umfingen, sie trösteten und zum Aufstehen nötigten, sie wegführten und die Tote auf ihr Pferd legten. Die Amazonen hatten die aufgescharrte Erde und die Spur des Ebers gesehen, keine von ihnen zweifelte daran, dass Penthesilea zu Hilfe geeilt war und ihr Pfeil sein Ziel irrtümlich verfehlt hatte. Dass ihre Königin das eigene Unvermögen mehr beweinte als den Tod der Amazone, ahnte keine.
    In den darauf folgenden Tagen und Wochen schlug Penthesilea, selbst vor sich fliehend, wilder und rastloser denn je das Wild in die Flucht, sehnte die Begegnung mit Achill herbei, den Moment, in dem er ihr unterlag, auf dem Boden lag, sie über ihm. Dann würde sie ihn zu sich umdrehen, sein Lächeln wäre gut und stärker als der Tod der Freundin.
    Nicht ahnend, wie leidenschaftlich ihre Königin die Begegnung mit dem einen Mann herbeisehnte, erreichten die Amazonen das Bergland um Troja, ritten durch Wälder aus Schwarzkiefern, immergrünen Eichen und Macchia, die Damhirschen und Wildschweinen Schutz und Nahrung gaben. Aus Nordosten kommend führte sie der Weg abwärts über die Bergrücken in die Laub- und Buschwälder des Tiefplateaus und schließlich in die Ebene von Troja. Duftend, still und friedlich breitete sich vor den Reiterinnen eine blühende Auenlandschaft aus. Grüne Weiden und silbrige Pappeln standen vereinzelt in einem Meer aus bunten Blumen, aus dem bei jedem Huftritt Wolken von Schmetterlingen aufflogen. Mit ihnen flatterten aufgescheuchte Wachteln, Reb- und Steinhühner davon, und über allem lag, je nachdem wie der Wind drehte, der Duft von Blüten und Kräutern. Mit Genuss weideten die Pferde, ließen, von der Überfülle des Angebots verwöhnt, das Gras bald stehen und kosteten von den unbekannten Spezialitäten der Mittelmeervegetation. Dann schritten Pferde |93| und Reiterinnen langsam weiter durch das fruchtbare Schwemmland ins Herz der Ebene, dahin, wo der Skamander wie eine Lebensader die Burg von Troja umfloss.
    Der hohe Siedlungshügel mit der mächtigen Burganlage kam in Sicht. Als Erstes sahen die von Nordost

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