Die Amazonen
Kommenden eine massive Bastion. Auf dem hohen Turm, der direkt auf dem Fels errichtet war, standen Menschen und blickten aus zehn Metern Höhe herab fassungslos auf das anrückende Amazonenheer.
Die Königin warf nur einen flüchtigen Blick auf die gewaltigen Mauern und die kleine Menschenansammlung. Sie sah über die Ebene hin zum Meer, und was sich ihren Augen darbot, erfüllte sie mit wilder Freude.
Um sich herum sah sie den Boden zerstampft vom Krieg. Trümmer von Streitwagen lagen zerstreut in der Landschaft neben verkohlten Resten von Scheiterhaufen. Zerbrochene Lanzen, verbeulte Helme, tote Pferde, die noch im Geschirr hingen, zeugten von der Allgegenwart des Krieges. Direkt vor ihr lehnte an einer Tamariske ein Speer, kurz abgestellt, damit sich ein Krieger den Schweiß von der Stirn wischen konnte, und nie mehr aufgenommen. Über allem lag eine Stille, die bedrohlich war und jetzt vom Gekreisch der Vögel unterbrochen wurde, die sich bei der Mahlzeit an den aufgeblähten Kadavern gestört fühlten. Penthesilea suchte den Horizont ab. Ihr Herz schlug lauter, als sie Rauchsäulen aufsteigen sah, dort, wo die Flotte der Griechen vor Anker lag. Irgendwo dort war auch er. Was tat er? Opferte er seinen Göttern? Bestattete er einen Freund? Welches war sein Feuer?
Sie unterdrückte den ersten Impuls, unmittelbar zum Lager der Griechen vorzudringen. Stattdessen sammelte sie die Amazonen um sich, die unbeeindruckt, aber neugierig die gigantische Burganlage musterten. Sie waren froh, dass die Männer, unter denen sie Beute machen wollten, keine Troer, sondern Griechen waren. Die Amazonen fürchteten sich nicht vor der Stadt, aber sie waren erfahren genug, um auf den ersten Blick zu sehen, dass diese Mauern uneinnehmbar waren.
|94| Penthesilea ernannte eine kleine Abordnung, die König Priamos den Grund ihrer Ankunft melden sollte. Die anderen ritten auf der Suche nach einem Platz zum Lagern dem Skamander entgegen, dessen Lauf sich durch eine Linie aus dichtem Bewuchs verriet. Langsam durchquerten sie die Ebene. Überall verstreut lagen Schleudersteine, zum Teil zu kleinen Haufen aufgeschichtet. Spuren von Streitwagen hatten sich in die Erde eingegraben, deutlich zu erkennen war der Fahrweg, auf dem die Gespanne die Stadt durch das Haupttor verließen, neben dem ein Feigenbaum stand. Die Frauen passierten zwei verwaiste Brunnen, dort trat aus einem Dampf aus, hier sprudelte eine warme Quelle, und breite Becken aus Stein wiesen darauf hin, dass das Wasser in Friedenszeiten zum Waschen genutzt wurde. Jetzt waren die Steine bemoost, Laub und Eidechsen raschelten in den Becken.
Einzelne Grabhügel ragten aus der flachen Landschaft, hierher hatten sich ein paar Pflanzen vor dem Zertretenwerden gerettet. Kleine Tamarisken, Ginster und Hartlaubgewächse krochen die Grabhügel hinauf, auch Mohnblumen, Kamille und andere Sorten, die Magerböden liebten, hatten sich dort angesiedelt. Unter einem Macchiastrauch duckte sich ein verlorenes Zicklein und meckerte ängstlich nach seiner Mutter. Sie war wohl mit der Herde unmittelbar vor einem Angriff eiligst in die Stadt zurückgetrieben worden. Das Kleine hatte den Anschluss verloren und sich versteckt, doch in der Luft stritten bereits zwei Geier mit einem Adler um die Beute.
Die Amazonen erreichten den Fluss. Die Ufer des Skamander waren fast durchgehend steil und dicht bewachsen mit Ulmen und Weiden, Tamarisken, Lotos, Binsen und Zyperngras. Aber zwischen der Stadt und dem Schiffslager gab es eine Furt, an der das Grün lichter wurde und das flache Ufer in eine Halbinsel auslief. Eine Amazone ließ sich vom Pferd gleiten und trat auf die Halbinsel. Der Fluss war vom Krieg nicht verschont geblieben. Ein Stück oberhalb der Furt hatte sich eine Leiche im Geäst einer Weide verfangen, andere Tote trieben mit der Strömung Richtung |95| Meer. Fische, vor allem Aale, nagten an den weißen Körpern, und der Fischreichtum durch das reichhaltige „Futter“ hatte viele der Wasservögel angelockt, die sonst die Sumpfgebiete und Lagunen des Skamanderdeltas bevölkerten. Pelikane und Flamingos, Störche, Kraniche und Reiher balancierten über Felsbrocken und Leichen, um sich satt zu fressen. Fette Aale wanden sich in den spitzen Schnäbeln der Störche, zappelten die Kehlen herunter oder klatschten aus dem Schnabel zurück ins Wasser, weil der Überfluss dem Jäger zwei auf einmal beschert hatte. Und obwohl es lebendiges und totes Fleisch in Mengen gab, hörte das Vogelvolk nicht
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