Die Amazonen
Sein Blick ließ sie nicht hinein zu ihm. Kälte und Zorn standen davor, und das befremdete sie.
Doch ihre Irritation war in einem unmessbar kurzen Moment wieder vorüber, nur wahrgenommen von ihrem Pferd, das ein paar Schritte zurücktrat, und von Achill. Vielleicht hatte er ihren suchenden Blick bemerkt und sich gewundert, warum sie nicht angriff, jedenfalls glitt ein Erstaunen über sein Gesicht und war verschwunden, bevor jemand hätte sagen können, ob es wirklich aus ihm kam oder nur als Schatten einer winzigen Wolke am sonnigen Himmel durch ihn hindurch gehuscht war.
Penthesilea hatte inzwischen ihren Traum mit der Wirklichkeit verglichen und sich korrigiert. Im Traum hatte Achill erst gelächelt, als er ihre Beute war – und so würde es auch jetzt sein. Sie schoss den ersten Pfeil ab, der ihn entwaffnen sollte, zielte auf den rechten Arm, in dem er den Speer hielt, doch der Pfeil fiel zu Boden. Wie sollte die Amazone auch wissen, dass Achills Körper mit göttlichem Ambrosia gesalbt und im heiligen Feuer gehärtet war, das ihn – bis auf die Ferse – unverletzbar gemacht hatte?
Für Achill war ihr Schuss das Signal, dass jetzt der Kampf auf Leben und Tod begann. Im Zorn über das demütigende Schicksal, das die Götter ihm zugedacht hatten, fasste er seine Lanze am Schaft, stürzte brüllend auf Penthesilea zu und hätte die Verwunderte getroffen, wenn ihr Pferd sie nicht unaufgefordert gerettet hätte. Schneller als das Geschoss fliegen konnte, brachte es seine |107| Reiterin auf sichere Distanz, die jetzt ihrerseits die Jagd eröffnete. Sie wendete das Pferd, das ihr zum ersten Mal nur widerstrebend gehorchte.
Der Zögling des Sturmwindes fürchtete sich nicht, denn er war schneller als die Angst, die ihn niemals einholen konnte. Aber er spürte, dass dies keine gewöhnliche Jagd war. Energischer als sonst trieben ihre Schenkel ihn vorwärts, atemloser klang ihm ihr „Yeyeiei“ in den Ohren, unentschlossener kamen ihre Befehle zum Ausweichen oder Umkehren. Das Wegtauchen unter den Speeren war für beide immer ein Spiel gewesen, in dem sie ihr Einssein miteinander am meisten genossen. Innerhalb eines Galoppsprunges hatten sie beim Heransausen des Speeres entschieden, ob sie ihm entgegenflogen und unter ihm hindurchschlüpften oder zum pfeilschnellen Spurt ansetzten, zu einem Wettlauf mit der Waffe, den sie immer gewannen.
Heute war es kein Spiel, heute spürte er nicht das Lächeln, mit dem sie den Spurt aus ihm herauskitzelte. Sie drängte den Hengst zum Angriff, dirigierte ihn mit hartem Zügel, hielt geradewegs, ohne einen einzigen Haken zu schlagen, auf Achill zu, versammelte das Tier so grob, dass es sein schäumendes Maul vor Schmerz aufriss, und schleuderte die Lanze mit einer Wucht, die einen Stier zu Boden gerissen hätte.
Sie hörte den Aufprall auf seinem Schild, als sie schon vorbei war, wendete auf der Stelle und kam zurück, war schon halb vom Pferd geglitten, um neben dem Gestürzten niederzuknien, ihre Beute zu fassen, umfasst zu werden von dem Lächeln aus ihrem Traum. Doch Achill stand. Die Lanze war an seinem Schild abgeprallt und zu Boden gefallen.
Penthesilea verstand nicht, warum ihre Waffen keine Wirkung zeigten. Vielleicht, dachte sie, war sie zu zögernd gewesen, zu ängstlich, den Schönen, Geliebten – jetzt wagte sie es zu denken – zu verletzen oder am Ende zu töten.
Sie war zu vorsichtig gewesen. Natürlich – sie konnte doch sehen, wie stark seine Arme waren, wie groß seine Gestalt, wie |108| fest sein Stand, wie entschlossen seine Augen! Schon lächelte sie wieder, über sich selbst, dass sie diesen Helden so verhalten angegriffen hatte wie einen harmlosen Hirsch. An dem Tiger wollte er wohl gemessen werden, den sie im Kaukasus gejagt und erlegt hatte. Diese Kraft war es, der er sich ergeben würde.
Penthesilea zwang den schaumbedeckten Hengst zum Umkehren. Ihm trug der Wind Boreas’ Warnung in die Ohren, aber seine Reiterin hörte ihn nicht. Sie stellte ihre Beute. Mit weit gespreizten Beinen duckte sich das Pferd vor Achill, wiegte den Körper hin und her und schlug nervös mit dem Schweif, in jedem Moment bereit, sich auf die eine oder andere Seite zu werfen und seine Reiterin davonzutragen. Die Jägerin und ihre Beute umkreisten sich, Penthesilea geduckt wie ihr Pferd, das mit gekreuzten Beinen im Kreis um Achill herumlief, der sich hinter seinem Schild verbarg und sich auf der Stelle drehte, sodass Penthesilea immer nur diesen Schild vor Augen hatte
Weitere Kostenlose Bücher