Die Amerikanerin
ausgepackt. Sie hatte erwartet, dass ihre Tante sich daraufhin an ihr Bett setzen und ein Gespräch über Ruth, New York und Marie beginnen würde – vergeblich. Johanna schien für alles Mögliche Zeit zu haben, nur nicht für einen Plausch.
»Die letzten Monate des Jahres sind bei uns immer am hektischsten. Plötzlich fällt allen Einkäufern ein, dass sie doch zu wenig Christbaumschmuck geordert haben. Und wir können sehen, wie wir die Nachaufträge in kürzester Zeit produziert und ausgeliefert bekommen!«, hatte sie Wanda erklärt, als diese sie zaghaft bat, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Ob das in anderen Werkstätten auch so sei, hatte Wanda daraufhin wissen wollen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihr Vater bis heute noch nichts von sich hatte hören lassen. Kein Brief, nicht einmal eine kurze Nachricht, erst recht kein Besuch. Johanna hatte sie etwas seltsam angeschaut und gemeint, vor allem die Werkstätten von Christbaumschmuck wären vor Weihnachten überlastet, in anderen würde sich die Arbeit in Grenzen halten. Und Wanda hatte versucht, das dumpfe Gefühl der Enttäuschung zu verdrängen.
Der einzige Kontakt zur Außenwelt, den sie in diesen Wochen hatte, waren die beiden Briefe aus New York, in denen Ruth sie ermahnte, sich anzupassen und zu fügen.
Und nun der Brief von Marie, der am Vormittag zusammen mit anderen Unterlagen für Johanna in einem dicken Umschlag aus Genua eingetroffen war.
Tränen liefen über Wandas Wangen. »… bin in der Stadt der Künste gelandet …, gehe ich in der Glaskunst neue Wege …« –warum wendete sich immer nur für andere das Blatt zum Guten, nie aber für sie?
Auf den Tag genau vier Wochen nach ihrer Ankunft in Lauscha erklärte der Doktor endlich, dass Wanda täglich für ein paar Stunden aus dem Bett dürfe. Doch statt sich auf die Küchenbank zu setzen und Lugiana, dem Hausmädchen, beim Kochen zuzusehen, wie Johanna es vorschlug, äußerte Wanda sofort den Wunsch, in der Werkstatt zu helfen. Johanna, die in irgendwelche Listen vertieft war, hörte gar nicht zu, Anna verdrehte nur die Augen nach dem Motto: Noch mehr Umstände wegen des Besuchs aus Amerika!, und Onkel Peter meinte, dass die chemischen Dämpfe seiner Ansicht nach nicht gerade gesundheitsfördernd sein konnten. Es war Johannes, der zu seinem Vater sagte: »Warum setzen wir Wanda nicht zu den Verpackerinnen an den Tisch? Die könnten zurzeit Hilfe gut gebrauchen!«
Wanda warf ihrem Cousin einen dankbaren Blick zu.
Und so verbrachte sie den ersten Nachmittag damit, Kartons aufzufalten, Seidenpapier um Nikoläuse und Christbaumspitzen zu wickeln und diese dann in den Kartons zu verstauen. Aus Angst, etwas könne herunterfallen oder in ihrer Hand zerbrechen, nahm sie jedes Stück mit einer solchen Ehrfurcht hoch, dass ihre Bewegungen denen einer Schnecke glichen. Während die Stapel der gefüllten Kartons bei den anderen Verpackerinnen immer höher wurden, blieb ihre Tischhälfte kläglich leer, was Wanda mindestens so blamabel fand, als wenn eine Kugel durch ihre Schusseligkeit zerbrochen wäre. Doch gegen vier Uhr, als die anderen eine kurze Kaffeepause einlegten, hatte sie den Bogen heraus. Sie wollte weder Kaffee noch Marmeladenbrot, sondern nur weiter einpacken. Wenn sie auch nicht ganz so schnell war wie die anderen, musste sie sich ihrer Langsamkeit wenigstens nicht mehr schämen! Nun traute sie sich sogar, hin und wieder von ihrer Arbeitaufzuschauen und ihren Blick durch die Werkstatt schweifen zu lassen.
Alles war so, wie Marie es geschildert hatte: die Arbeitsplätze der Glasbläser, Bolge genannt, auf denen die Gasbrenner standen, das Summen der Flammen, an der Wand die Vorrichtung für das Versilbern der Kugeln – eine Tätigkeit, die Anna auch mit verstauchtem Knöchel ausüben konnte –, daneben der Tisch mit den Dutzenden von Farbtöpfen, dem Glitzerpulver, den silbernen und goldenen Drähten. Hier saßen drei weitere junge Frauen aus dem Dorf, Johanna nannte sie »Arbeitsmädchen«. Als Wanda am Mittag in die Werkstatt gekommen war, hatten sie neugierig zu ihr hinübergestarrt, mit ihr gesprochen hatten sie bisher jedoch nicht. Zusammen mit den Verpackerinnen waren also fünf fremde Frauen in der Werkstatt angestellt. Wanda erfuhr jedoch, dass noch viel mehr Menschen bei ihrer Tante in Lohn und Brot standen: Jeden Dienstag und jeden Freitag kam der Marzen-Paul mit seinem Wagen und holte Dutzende von Kartons mit verspiegelten Kugeln ab, die er im
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