Die Amerikanerin
Entsetzen hatte sie nämlich feststellen müssen, dass in Lauscha nicht Deutsch gesprochen wurde, sondern »Lauschaerisch«, wie Wanda den fremd klingenden Dialekt im Stillen nannte.
»Außerdem sind Ursula und Fritz nicht verheiratet, ja, nochnicht einmal verlobt!«, fügte Peter an, nachdem er seine Kugel fertig geblasen hatte.
»Was tut denn das zur Sache? Entweder man meint es ernst miteinander oder nicht! Ich für meinen Fall wäre wirklich wütend, wenn Richard in meiner Abwesenheit so mit einer anderen herumschäkern würde.«
Richard? Wer war Richard? Wanda spitzte die Ohren. Konnte es sein, dass ihre Cousine, die immer so steif tat, als hätte sie einen Besen verschluckt, einen … Verehrer hatte?
»Es sind halt nicht alle Mädchen so tugendhaft wie du!«, sagte Johanna, ohne von einer ihrer unvermeidlichen Listen aufzuschauen. »Die Ursula wird sich schon noch umschauen, wenn ihr Ruf erst einmal ruiniert ist und kein Mann mehr ernsthaft etwas von ihr wissen will!«
Anna warf ihrem Bruder einen triumphierenden Blick zu.
»Übrigens …« – nun schaute Johanna doch auf – »vorhin ist mir der Siegfried über den Weg gelaufen. Unsere neuen Etiketten sind eingetroffen. Das heißt, morgen früh muss sie jemand abholen.«
Anna stöhnte. »Aber bitte nicht ich. Ich möchte mich doch an der neuen Vogelform probieren. Außerdem weißt du, wie ungern ich zu dem buckligen, alten Siegfried gehe. Ich habe jedes Mal Angst, dass ich ihn zwischen all seinen Schachteln und Tüten tot auffinde!«
Die anderen lachten.
»Der Schachtelmacher ist ein steinalter Mann«, erklärte Johannes auf Wandas fragenden Blick hin. »Lange wird er’s nicht mehr machen … Eines Tages wird man ihn in einer seiner Schachteln aus dem Laden tragen.«
Erneutes Gelächter.
»Jetzt reicht’s aber!«, mahnte Johanna. »Was soll denn eure Cousine von euch denken, wenn ihr so grobe Reden haltet.«
Wanda räusperte sich. »Wenn du mir den Weg erklärst, könnte ich die Etiketten abholen. Ein bisschen frische Luft tätemir gut, außerdem wird es allmählich Zeit, dass ich etwas von Lauscha sehe.«
»So weit kommt es noch, dass das Erste, was du von Lauscha siehst, der staubige Laden vom alten Siegfried ist! Da würdest du ja einen schönen Eindruck bekommen!« Johanna winkte ab.
Die anderen warfen sich amüsierte Blicke zu.
»Am liebsten würde ich ja mit dir zusammen …, aber da ist der Auftrag für die Engländer, der nicht warten kann, und … und Peter kann auch nicht weg …« Geistesabwesend klopfte Johanna mit ihrem Stift auf den Tisch, wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdachte. »Nein, wir machen das anders …«
Geduldig wartete Wanda ab, mit welchem Plan ihre Tante aufwarten würde. Ein wenig ärgerte sie sich über ihr Stillhalten – bei ihren Eltern hätte sie es nicht zugelassen, dass die so über ihren Kopf hinweg entschieden.
Johanna schaute Wanda plötzlich liebevoll an. »Auf keinen Fall wirst du allein gehen. Ich will, dass du Lauscha von seiner besten Seite siehst, dass alles mindestens so schön ist, wie es Marie dir beschrieben hat. Wo du so lange darauf hast warten müssen …«
»Meinst du jetzt ihre achtzehn Jahre oder die paar Wochen Lungenentzündung?«, warf Peter grinsend ein.
»Beides!« Johanna lachte. »Also, passt auf: Die Kiste mit den Etiketten soll der Marzen-Paul auf seinem Rundweg mitbringen, dafür braucht keiner von uns aus dem Haus. Anna muss dringend an ihrer neuen Form arbeiten, sie sollte sowieso nicht weg. Aber wenn wir heute ein wenig länger arbeiten, kann Johannes gleich morgen früh Wanda unser schönes Lauscha zeigen!«
9
»Tja, und das hier war die ehemalige ›Mutterglashütte‹. Hier war mein Vater Glasmeister, bis der alte Kasten vor neun Jahren geschlossen wurde.«
Johannes’ Atem blieb wie kleine weiße Wölkchen in der Luft stehen.
Beklommen schaute Wanda auf das verwaiste Gebäude. Die hölzernen Wände waren von Ruß geschwärzt, dort, wo einst Fenster gewesen waren, ragten nur noch ein paar gläserne Zacken feindselig in die Höhe. Auf einer Seite hatte jemand Bretter aus der Wand gerissen, so dass dort nun ein Loch klaffte. Es reizte Wanda nicht, das Innere dieses Gemäuers zu erkunden.
In Maries Erzählungen war die Dorfglashütte viel mehr gewesen als lediglich der Betrieb, der die Glasrohlinge herstellte! Sie war der Mittelpunkt des dörflichen Lebens, auf dem Hüttenplatz davor wurden Feste gefeiert, dort traf man sich nach der Arbeit
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