Die Amerikanerin
ganzen Dorf ausfuhr, wo Frauen sie in Heimarbeit bemalten. Jeder in der Werkstatt hatte seine speziellen Aufgaben, und der komplette Arbeitsablauf war perfekt geplant, so dass es nirgendwo zu Engpässen oder Leerlauf kam, erkannte Wanda bald. Am Ende ihres ersten Nachmittags in der Glasbläserei starrte Wanda ungläubig auf die Unmengen von Kartons, die an diesem Tag gefüllt worden waren. Mit einem Schmunzeln klärte Johanna sie auf, dass diesmal sogar verhältnismäßig wenig produziert worden war, was damit zusammenhing, dass die Herstellung von Christbaumspitzen ganz besonders zeitaufwendig war.
Hinter der kompletten Planung steckte nicht etwa Onkel Peter, sondern Johanna, die von allen nur »die Chefin« genannt wurde. Sie war überall, sah alles, hörte alles, und das zu jeder Zeit. Wenn sie etwas vorschlug, dann in sanftem, fast lieblichem Ton. Trotzdem gab es nur selten Widerspruch, ganz imGegenteil: Alle – selbst ihr Mann Peter – schienen damit zufrieden, dass sie über alles bestimmte. Johanna war es auch, die die Kunden empfing und Aufträge aushandelte. Im Gegensatz zu anderen Glasbläsereien, die ihre Geschäfte über einen Zwischenhändler, den sogenannten Verleger, in Sonneberg betrieben, kamen die Kunden der Glasbläserei Steinmann-Maienbaum direkt ins Haus, das wusste Wanda von Marie. So profitierte allein die Familie von den Geschäften und nicht auch noch ein Mittelsmann. Wanda zweifelte keinen Moment daran, dass die Geschäftstüchtigkeit ihrer Tante zu diesem Umstand geführt hatte.
Doch gerade deswegen war sie ihr ein wenig unheimlich: Dass eine Frau so gewieft sein konnte wie ein Mann, hatte sie nicht geahnt. Johanna war eine richtige Geschäftsfrau! So seltsam es klang – neben ihr fühlte sich Wanda richtig hinterwäldlerisch. Da kam sie aus New York, der Hauptstadt der Welt, und kannte bisher nur Frauen wie Ruth und deren Freundinnen, die lediglich das Zepter über ihren Haushalt in der Hand hielten. Oder Frauen wie Marie und Pandora, die zwar auch Verantwortung trugen und Entscheidungen fällten, dies aber im Gegensatz zu Johanna nur für ihre eigene Person taten. Ganz sicher gab es Geschäftsfrauen von Johannas Art auch in New York – vielleicht in der Lower East Side, wo sich unzählige Bekleidungsfabriken aneinanderdrängelten –, nur kennengelernt hatte Wanda bisher keine.
Sie war von Johanna sehr beeindruckt und fand spätestens an ihrem ersten Nachmittag in der Werkstatt heraus, dass ihre Tante wegen Maries Fortbleiben ganz und gar nicht kopflos war, sondern das Beste aus der veränderten Situation machte. Nicht einmal Maries Eröffnung, weniger Entwürfe als versprochen für das kommende Musterbuch zu liefern, brachte sie aus der Ruhe. Mit ein paar knappen Sätzen informierte sie die versammelte Mannschaft über Maries Brief, der im selben Umschlag wie der an Wanda eingetroffen war.
»Im Großen und Ganzen wird sich für uns nicht viel ändern, das Musterbuch wird trotzdem im Februar in Druck gehen«, schloss sie und warf Magnus, der verkrampft auf seinen Bolg starrte, einen bedauernden Blick zu. Dann wandte sie sich an Anna: »Ab jetzt wirst du dich verstärkt um neue Entwürfe kümmern – Marie schreibt, du hättest längst das Zeug dazu. Jetzt kannst du zeigen, was in dir steckt.«
Und Wanda sah zum ersten Mal einen Ausdruck von Glück und Zufriedenheit auf dem Gesicht ihrer Cousine.
»Hast du gesehen, wie Schweizers Ursula gestern mit dem Klaus herumgealbert hat? Und das, wo ihr Fritz doch im Rheinland unterwegs ist«, sagte Anna, während sie Versilberungsflüssigkeit in eine Kugel träufelte.
»Das war doch völlig harmlos«, erwiderte ihr Bruder.
»Wenn die beiden etwas miteinander haben würden, dann hätte man das doch schon vor Wochen beim Erntedanktanz gesehen.«
Wanda schaute von einem zum anderen. Am Vorabend waren die Geschwister wie jeden Mittwoch ausgegangen. Johannes hatte ihr erzählt, dass sich die Dorfjugend in einem leerstehenden Lagerschuppen der Glashütte traf. Dort unterhielt man sich, scherzte miteinander, vertrieb sich die Zeit. Wahrscheinlich ähnelten die Treffen jenen, die sie in New York bei verschiedenen Landsmannschaften besucht hatte, mutmaßte Wanda. Nun, wo sie die Gelegenheit gehabt hätte, die deutschen Gepflogenheiten hautnah zu erleben, war sie ans Haus gefesselt! Aber nicht mehr lange, schwor sie sich, während sie sich bemühte, dem geschwisterlichen Geplänkel zu folgen, was gar nicht so einfach war. Zu ihrem
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