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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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vom Dorf mitgekriegt!«
    Als er Wandas fragenden Blick sah, holte er weiter aus:
    »Marie saß Tag für Tag nur an ihrem Bolg oder am Zeichentisch, es kam selten vor, dass sie unter Leute ging. Das wollte sie einfach nicht. Ob Fasenacht, Maientanz oder Sonnwendfeier – Magnus hat sich oft darüber beklagt, dass er sie nicht aus der Stube locken konnte. Ihre Vorstellung von einem vergnüglichen Tag war ein Besuch bei dem alten Bücherwurm in Sonneberg.«
    »Das glaub ich nicht!«, rief Wanda. »Du hättest sie mal in New York erleben müssen. Meine Mutter hatte die größte Mühe, sie einmal einen Abend lang daheim zu behalten! Hier eine Vernissage, da eine Dichterlesung – Marie ist wie ein
    Schmetterling von Blüte zu Blüte geflattert.«
    »Bist du dir sicher, dass wir von derselben Marie reden?«
    Wanda kicherte, doch schon im nächsten Moment wurde sie wieder ernst. »Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, warum Lauschas Glasbläser solche Probleme haben. Glas wird doch immer und überall auf der Welt gebraucht, oder?«
    »Schon, aber Lauscha hat nun einmal kein ausschließliches Recht auf die Glasherstellung! Über neunzig Prozent aller Leute im Thüringer Wald sind in der Glasindustrie tätig – zumindest haben das irgendwelche schlauen Köpfe errechnet. Da gibt es ein Überangebot an Waren und an Arbeitskraft, das bekommen auch wir zu spüren, im Guten wie im Schlechten. Wenn meine Mutter beispielsweise mit einer Bemalerin nicht mehr zufrieden ist, weil diese schlampig arbeitet oder unpünktlich abgibt, dann hat sie keine Mühe, zehn andere für diese Stelle zu finden. Wenn wir jedoch einen Auftrag nicht pünktlich ausführen, dann läuft uns der Kunde auch schneller davon, als wir gucken können.«
    »Aber Christbaumschmuck wird doch nicht das ganze Jahr über gekauft, oder?«
    Johannes warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Das stimmt, Saisonware ist ein besonders hartes Brot. Nachdem in den letzten Jahren so viele auf diesen Karren aufgesprungen sind, sind die Preise eher gesunken als gestiegen. Was unserer Familie hilft, sind zum einen die guten Kontakte ins Ausland, die wir haben – unter anderem auch dank deiner Mutter, von der wir immer wieder neue Kunden vermittelt bekommen.«
    Mutter eine Hilfe beim Kundenfang? Wanda hob die Brauen.
    »… und zum anderen tüftelt die Chefin ständig neue Möglichkeiten aus, damit wir günstiger produzieren können. Na ja, und dann darfst du nicht vergessen, dass wir die schönsten Kugeln von allen herstellen.«
    »Eingebildet bist du wohl gar nicht?« Wanda lachte. Doch was Johannes sagte, leuchtete ihr ein – der Familienbetriebschien wirklich solide Grundlagen zu haben. Es machte Spaß, sich mit ihrem Cousin über geschäftliche Dinge zu unterhalten, stellte sie fest. Sie kam sich dabei ausgesprochen erwachsen vor. Johannes wusste zu jeder Vitrine, zu jedem Stück etwas zu sagen, auch schien er ein beeindruckendes Zahlengedächtnis zu haben. 1597 wurde Lauscha gegründet, 1748 wurden die Holzpreise erhöht, ab 1753 brauchten die Glasmeister keine Gläser mehr an den herzoglichen Hof zu verschenken, mussten dafür aber mehr Zinsen zahlen, und so weiter. So spannend sie seine Erläuterungen auch fand, machte sich trotzdem ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung in ihr breit. Lauscha war so … ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Wo waren denn nun die ganzen Familien, die ums Feuer herumsaßen und Kugeln bemalten? Wo die Flämmchen der Glasbläser, die wie Glühwürmchen die düstere Jahreszeit erleuchteten? Und wo war der Märbelmacher, der die schönsten Kinderträume herstellte?
    Als sie aus der Zeichenschule traten, hatte es zu schneien begonnen. Dicke, seidenweiche Flocken setzten sich auf Wandas Haare, Schultern und Arme.
    »Es schneit, es schneit, es schneit!« Sie vollführte einen kleinen Freudentanz, wobei sich ihr Glockenrock wie ein Ballon aufplusterte.
    Johannes, der beide Hände in den Hosentaschen vergraben hatte, grinste verlegen. »Mach doch nicht so ein Getöse, die Leute gucken schon!«
    »Was soll’s? Das ist der erste Schnee, den ich in Deutschland erlebe! Nie werde ich diesen Tag vergessen«, seufzte Wanda glücklich.
    »Dieses Jahr sind wir spät dran mit dem Schnee. Wenn erst einmal alles weiß ist, dann bleibt es so bis zum Frühjahr, es ist also nicht nötig, dass du hier Wurzeln schlägst«, drängte Johannes. Er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen.
    Wanda packte ihren Cousin fest am Ärmel. »Warte mal

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