Die Amerikanerin
erst gestern Nacht wieder vorgeworfen. Er hatte den ganzen Tag im Hafen verbracht, obwohl er ihr versprochen hatte, gemeinsam mit ihr aus einem Stapel Märchenbücher ein Motiv auszusuchen, das sie im zukünftigen Kinderzimmer an die Wand malen wollte.
»Das ist etwas anderes«, hatte Franco entgegnet. »Vater hat nur mich als Vertrauensperson. Da kann ich nicht meine Interessen über die der Familie stellen.«
Als ob es nicht im Interesse der Familie wäre, wenn er sich intensiver um die Weinberge kümmerte!
Marie nickte einem Gärtner zu, der vertrocknete Blätter von einem Zitronenbäumchen sammelte. Zielstrebig ging sie zu der Sitzgruppe aus weißen Korbmöbeln, die im kuppelförmigen Mittelteil des Gewächshauses stand. Sie wählte einen Schaukelstuhl und ließ sich nieder. Die hohe Korblehne tat ihrem angespannten Rücken gut.
Der gläserne Anbau war einst das Hochzeitsgeschenk des Conte an seine Braut mit ihren gärtnerischen Vorlieben gewesen. Doch zu beider Leidwesen hatte sich bald herausgestellt, dass die Contessa nach wenigen Minuten im Glashaus stechende Kopfschmerzen bekam. Warum und wieso wusste keiner, da ihr der Aufenthalt im Garten keinerlei gesundheitliche Probleme bereitete. Über die Jahre war die Orangerie nur noch für die Anzucht von Jungpflanzen und zum Überwintern empfindlicher Arten verwendet worden. Erst Marie führte sie wieder ihrem ursprünglichen Zweck als grünem Salon zu.
Beide Hände auf ihren Bauch gelegt, schaukelte sie mit geschlossenen Augen sanft hin und her, eingehüllt in den Duft der reifenden Zitrusfrüchte. Sich an die Übungen erinnernd, die sie oben auf dem Monte Verità gelernt hatte, atmete Marie mit eingezogenem Bauch ein und mit herausgestrecktem Bauch wieder aus. Als ihr Ärger über Franco abgeebbt war, faltete sie Wandas Brief auf und las weiter.
… was ich an Richards Arbeit vor allem bewundere, ist das Selbstbewusstsein, das in jedem Stück verkörpert ist. Als ich ihm sagte, dass ich ähnliche Stücke schon in New York bei einer Ausstellung venezianischer Glaskünstler gesehen hätte, hat er vielleicht Augen gemacht! Diese Ähnlichkeit sei beabsichtigt, sagte er dann. Er wolle den venezianischen Stil mit Lauschaer Technik verbinden und damit etwas ganz Neues, Eigenes schaffen. Mir kam er vor wie ein Ruderer, der sein Paddel tief ins Wasser taucht und mit dem Blick aufs Land schwungvoll und unbeirrt durchzieht …
Dass jemand in so jungen Jahren schon so genau weiß, was er will! Du kannst Dir nicht vorstellen, wie peinlich ich es fand, als Richard mich fragte, ob und was ich gelernt hätte! Ich hätte eine Art kaufmännische Ausbildung, habe ich gefaselt und gehofft, dass er nicht weiterfragen würde … Hätte ich sagen sollen, dass ich Tochter von Beruf bin?! Ein Mann wie er würde mich nur verachten. So einer will kein Püppchen, sondern … keine Ahnung, vielleicht sollte ich meine liebe Cousine dazu befragen? Als ich beim Abendessen an diesem Tag erfuhr, dass es sich bei Richard Stämme um ›Annas‹ Richard handelt, habe ich doch ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut. Wenn er wirklich ihr Verehrer ist, warum besucht er sie dann nie? Nachdem Harold und ich uns vorgestellt wurden, ist er oft bei uns zu Hause aufgekreuzt und hat Blumen oder Konfekt abgegeben. Ist so etwas nicht üblich in Lauscha? Du verstehst, dass ich nicht nachhaken wollte, aber ehrlich gesagt, würde mich schon interessieren, was hinter Annas ›Beziehung‹ zu Richard steckt. Vielleicht weißt Du Näheres …?
»Oje! Wanda, Wanda, dich hat’s ganz schön erwischt …«, murmelte Marie lächelnd.
Wie ein Ruderer, der sein Paddel unbeirrt durchs Wasser zieht … – in all den Wochen, die sie in New York gewesen war, hatte sie Wanda kein einziges Mal so von Harold schwärmen hören, ganz im Gegenteil: Wenn sie von ihm sprach, hörte sie sich fast ein wenig abfällig an, gerade so, als belächle sie seine Bemühungen um sie.
Richard Stämme – es wunderte Marie überhaupt nicht, dass Wanda Gefallen an ihm fand. Der junge Glasbläser war nicht nur ein sehr selbstbewusster Mensch, der sein Handwerk besser verstand als die meisten, sondern auch ein sehr schöner Mann – und das trotz seiner ärmlichen Kleidung und seiner langen, schlecht geschnittenen Haare. Er war außerdem ein Einzelgänger. Dabei hätten die Leute gern mehr von ihm gesehen. Marie wusste von Magnus, dass die anderen Glasbläser ihn immer wieder aufforderten, sich ihren abendlichen
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