Die Amerikanerin
Stammtischrunden anzuschließen, aber Richard blieb lieber für sich und arbeitete an seinen Entwürfen. Sein täglich Brot verdiente er damit, dass er größeren Betrieben zuarbeitete. Eswar auch schon vorgekommen, dass Johanna ihm einen kleineren Auftrag zuschob, wenn die Kapazität der Glasbläserei Steinmann-Maienbaum erschöpft war. Auf diesem Weg hatten sich Anna und Richard näher kennengelernt.
Auf einmal verspürte Marie einen leichten Schwindel. Sie erhob sich vom Schaukelstuhl und verteilte ein paar der samtrosafarbenen Kissen auf dem Korbsofa. Mit hochgelegten Beinen, eine leichte Decke über sich gebreitet, gab sie sich erneut ihren Gedankenausflügen hin.
Richards größter Wunsch, das hatte er Anna einmal anvertraut – die es in ihrer Verliebtheit Marie weitererzählt hatte –, war es, einmal eine große Werkstatt zu besitzen. Er selbst hauste in einer ärmlichen Hütte, in der es nicht einmal einen Gasanschluss für den Brenner gab – mehr hatten ihm seine Eltern nicht hinterlassen. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab zu träumen. »Ich will einmal einen Verkaufsraum, wo sich die feinen Einkäufer die Klinke in die Hand geben, um Bestellungen für die besten Adressen in aller Welt aufzugeben …«, hatte er Anna gestanden. Marie war sich ziemlich sicher, dass Richard eines Tages seine Träume wahr machen würde, und Anna sah es genauso.
Bedeuteten solche Vertraulichkeiten, dass die beiden schon an eine gemeinsame Zukunft dachten? Marie wusste es nicht, sie hatte Annas Schwärmerei nicht weiter ernst genommen. Wenn sie nun darüber nachdachte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass die beiden bisher auch nur einen einzigen Kuss getauscht hatten. Anna war sich ihrer Weiblichkeit noch gar nicht bewusst, kannte keine Koketterie, kein Spiel mit ihren spröden Reizen. Doch sollte sie das Wanda schreiben und damit Wasser auf die Mühle gießen? Oder war es besser, sich aus der Sache herauszuhalten? Andererseits: Wenn Wanda wirklich ein Auge auf den Jungen geworfen hatte, dann konnte sie Anna nur bedauern.
Plötzlich überfiel Marie eine so tiefe Sehnsucht nach ihrerFamilie, dass es zu schmerzen begann. Unvermittelt streichelte sie über ihren Bauch, um wenigstens Kontakt zu ihrem Kind herzustellen.
»Deine Mama ist sentimental«, flüsterte sie in die Orangenbäume. »Statt sich über die italienische Sonne zu freuen, heult sie dem Thüringer Winter nach.« Einen Augenblick lang kämpfte sie mit sich, ob sie Papier und Bleistift holen sollte, um Wanda zu antworten und zu fragen, warum sie nichts von einem Besuch bei ihrem Vater geschrieben hatte. Waren sie sich bisher aus dem Weg gegangen? Erfahrungsgemäß war das in Lauscha schwierig. Oder war die Begegnung mit Thomas Heimer so schlimm gewesen, dass Wanda nicht darüber schreiben wollte? Die Vorstellung trieb Marie Tränen in die Augen.
Kein Brief, beschloss sie daraufhin. In ihrer weinerlichen Stimmung würde sie womöglich Dinge schreiben, die sie gar nicht meinte und die ihre Familie falsch verstehen konnte. Es war besser, noch ein paar Tage mit dem Schreiben zu warten und in der Zwischenzeit zu überlegen, wie sie die Neuigkeit ihrer Schwangerschaft am besten formulierte. Als Weihnachtsüberraschung sozusagen. Ein Grinsen huschte über Maries Gesicht. Die würden vielleicht Augen machen, wenn sie erfuhren, dass sich die Familie im Mai vergrößerte!
Ruckartig schob sie die Decke fort und stand auf. »Von wegen dolce far niente – Arbeit ist die beste Medizin!«, sagte sie so laut, als müsse sie sich selbst davon überzeugen.
Kurze Zeit später saß sie an ihrem Bolg und ärgerte sich. Wie konnte sie nur den halben Tag vertrödeln, wo sie so viel zu tun hatte! Ihr Blick streifte das Mosaikbild, das sie am Vortag angefangen hatte. Es juckte sie förmlich in den Fingern, sich an dessen Fertigstellung zu machen, war es doch ein weiterer Schritt in Richtung ihres neuen großen, verrückten Plans, derEröffnung einer eigenen Galerie in der Genueser Altstadt. Bisher hatte sie es nicht gewagt, mit Franco über ihre Idee zu sprechen. Noch hatte sie das Gefühl, sie hegen zu müssen wie ein junges Pflänzchen, das man kräftig gießen musste, sollte es je groß und lebensfähig werden. Doch zum Jahresanfang wollte sie Franco in ihre Pläne einweihen. Vielleicht würde er ihr auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten behilflich sein, so dass sie spätestens nach der Geburt ihres Kindes mit der Ausstattung ihrer Verkaufsräume beginnen
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