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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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nichts mit dem Transport von Glaswaren zu tun, sondern mit dem Schnee: Vor jedem Haus mühte sich jemand ab, den Eingang freizuschaufeln, bald häufte sich der Schnee wie Berge aus Zuckerwatte auf den schmalen Gehsteigen und der Straße.Immer wieder sank Wanda knöcheltief ein. Dann quoll Schnee hinter den schmalen Rand ihrer Schnürstiefel, wo er durch ihre Körperwärme auftaute und als feuchtes Rinnsal ihre Socken durchweichte.
    Auf der Höhe der stillgelegten Glashütte angekommen, war sie so erschöpft, dass sie mit dem Gedanken spielte umzudrehen. Trotz Angst vor einer neuen Erkältung zog sie sich das Tuch vom Kopf und tupfte damit den Schweiß ab, der sich in ihrem Nacken gesammelt hatte. Achtlos stopfte sie das Tuch anschließend in ihren Beutel und schaute besorgt in Richtung Oberland, wie der obere Stadtteil von Lauscha genannt wurde. Was, wenn es dort noch schlimmer wurde? Was, wenn vor dem Heimer’schen Haus noch keiner mit der Schippe tätig gewesen war?
    Alles Ausreden, befand sie. Angst vor der eigenen Courage! Echte Lauschaer ließen sich von ein bisschen Schneefall bestimmt nicht Bange machen. Mit zittrigen Knien stapfte sie weiter.

    Hundert Mal hatte Wanda den Moment im Geiste durchgespielt. Hatte versucht, sich innerlich zu rüsten für die zu erwartenden Wogen der Gefühle, die über sie hereinbrechen würden. Dass es ein bewegender Moment sein würde, damit rechnete sie fest: Schließlich hieß es nicht umsonst, Blut sei dicker als Wasser, oder? Eines hatte sie sich jedoch vorgenommen: Wie auch immer die erste Begegnung mit ihrem Vater verlaufen würde, sie wollte souverän auftreten. Deshalb hatte sie jeden Fall in Betracht gezogen, selbst die schauerlichsten Szenarien nicht außer Acht gelassen: dass ihr Vater ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde. Oder sie beschimpfen würde. Dass er sie zwar hereinlassen, aber mit Gleichgültigkeit strafen würde. Oder dass sie sich aus Mangel an Gemeinsamkeiten in peinlichem Schweigen verlieren würden. Für diesen Fall hatte Wanda vorgesorgt und sich ein paarGesprächsthemen zurechtgelegt: Da war zum einen das Wetter, zum anderen das nahende Weihnachtsfest, ihre Eindrücke von Lauscha … Vielleicht ließe sich das Gespräch auch auf die Glaswaren der Heimer’schen Werkstatt bringen – ein bisschen Bewunderung ihrerseits würde das Eis sicherlich brechen. Und wenn ihr gar nichts mehr einfiele, konnte sie sich immer noch nach dem kranken Großvater erkundigen.
    Manchmal, in rührseligen Momenten, hatte Wanda sich auch vorgestellt, dass sie beide in Freudentränen ausbrechen und sich in die Arme fallen würden.
    Nur mit einem hatte sie nicht gerechnet: dass sie nichts, rein gar nichts fühlen würde beim Anblick von Thomas Heimer.
    Es war ein völlig Fremder, der ihr in Arbeitskittel und verblichenen, an den Knien ausgebeulten Hosen die Tür öffnete. Er war von mittlerer Statur, bleich, und er hatte graue Bartstoppeln. Sein Blick flackerte einmal kurz auf, als er Wanda sah, dann war es, als ob zwei Tore mit Entschiedenheit zugeschlagen würden. Ausdruckslos lagen seine grauen Augen tief unter struppigen Brauen, die sich bis zur Nasenwurzel hinzogen. Schmale Furchen verliehen seinem mageren Gesicht einen leidenden Ausdruck. Nichts an dem gealterten, kränklich wirkenden Mann erinnerte an Ruths Beschreibung des gutaussehenden Burschen, in dessen breite Schultern und verwegenes Lächeln sie sich einst verliebt hatte.
    In einem Roman über die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, den Wanda vor nicht allzu langer Zeit gelesen hatte, war die Heldin nach vielen Jahren ihrem tot geglaubten Vater begegnet. Der Autor hatte den Moment damit beschrieben, dass sie »das Gefühl hatte, in ihr eigenes Spiegelbild zu blicken«. Vergeblich wartete Wanda auf eine ähnliche Regung bei sich selbst, doch in Thomas Heimers Gesichtszügen war nichts, was sie wiedererkannt hätte.
    Stand sie überhaupt dem Richtigen gegenüber? Oder wardas Michel, der Bruder? Unauffällig schaute sie nach unten. Der Mann vor ihr hatte noch beide Beine, also … Sie musste ein nervöses Kichern unterdrücken, als ihr der Aberwitz der Situation bewusst wurde.
    »Wie siehst du denn aus? Hattest du die Läuse oder was?« Schroff deutete Thomas Heimer auf Wandas Kurzhaarfrisur. Dann drehte er sich um und schlappte ins Haus zurück. Die Tür ließ er offen, als wolle er damit sagen: Komm rein oder lass es bleiben, mir ist es egal.
    Wie vor den Kopf geschlagen folgte Wanda ihm durch einen

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