Die Amerikanerin
heraus.
Angefangen hatte es vor fünf Jahren, als einer ihrer Nachbarn sie mit einer ungewöhnlichen Bitte aufsuchte: Sein Sohn wäre wegen einer illegalen Wette in polizeiliche Bedrängnis geraten und müsste sich versteckt halten. Ob Signor de Lucca nicht helfen könnte, den Burschen, dessen ganzes Leben wegen eines dummen Fehlers doch nicht zerstört sein durfte, außer Landes zu schaffen? Gegen ein entsprechend hohes Entgelt, das verstünde sich von selbst. Die Zeiten waren hart, die Winzer-Konkurrenz aus Venetien, dem Friaulund der Toskana groß, die italienischen Gastwirte in New York wählerisch. Warum das schwierige Exportgeschäft nicht durch einen Zusatzverdienst aufwerten? Francos Vater hatte zugesagt. Ein Wink des Schicksals, mehr noch, ein Geschenk des Himmels, argumentierte der Conte gegenüber Franco.
Und dann nahmen die Dinge ihren Lauf. Was als einmalige Hilfestellung einem verzweifelten Vater gegenüber begann, entwickelte sich bald zu Menschenschmuggel in immer größerem Stil. Junge Männer, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, Auswanderungswillige, die aufgrund einer Krankheit keine Chancen sahen, von den amerikanischen Behörden ein Visum zu bekommen – zusammen mit einer Ladung De-Lucca-Wein war das gelobte Land plötzlich für jeden zum Greifen nahe. Natürlich konnte das nur funktionieren, indem man Zollbeamte auf beiden Seiten am »Frachtgeld« beteiligte. Pro Nase hatte eine Familie 400 Dollar für die illegale Überfahrt zu bezahlen – eine Summe, welche die Zurückbleibenden oft jahrelang beim Conte abarbeiten mussten. Je zwanzig Prozent davon gingen für »Hafengebühren« in Genua und New York drauf. Eine von Francos Aufgaben bestand darin, unter den Abfertigungsbeamten, den Zolloffizieren und den Verladekräften solche auszusuchen, die die Hand aufhielten, dafür die Augen aber im entsprechenden Moment zumachten.
Mit dem Frachtgeld allein war die Schuld der blinden Passagiere jedoch noch lange nicht getilgt: Nach ihrer Ankunft in New York sorgte Franco dafür, dass die Männer als billige Leiharbeiter in italienischen Restaurants oder beim Bau von Wolkenkratzern unterkamen – zu Löhnen, für die kein legaler Einwanderer gearbeitet hätte, versteht sich. Aus diesem Grund akzeptierten die de Luccas in der Regel nur Männer, die nicht älter als vierzig Jahre waren. Andere hätten die Strapazen der Überfahrt und der darauf folgenden Knechtschaften kaum überstanden.
»Unser System ist bis ins Detail ausgeklügelt.« Franco lächelte müde, dann begann er zu weinen.
Frachtgeld, Hafengebühren, Leiharbeiter – alles hatte seinen Namen. Marie schüttelte es. Sie hatte den Rücken an das Kopfteil des Bettes gelehnt, ihren zitternden Leib mit einer Decke verhüllt. Sie konnte keinen Trost spenden. Nicht Franco und nicht sich selbst. Franco trocknete seine Tränen und sprach weiter.
Immer wieder war es zu kleineren Zwischenfällen gekommen. Einmal war einer der blinden Passagiere fast an Durchfall gestorben. Ein anderes Mal hatte es einen Disput gegeben, bei dem sich einer der beiden Streithähne einen Arm gebrochen hatte. Aber Lebensgefahr bestand in all den Jahren für niemanden – bis zu dieser Fahrt der »Firenze«. Wie es zu dem Unglück kommen konnte, war bislang unklar. Tatsache war jedoch, dass beim Entladen zwölf Leichen gefunden wurden. Die Männer waren allem Anschein nach erstickt.
Marie ließ nicht locker, bis sie jedes Detail wusste. Wer die toten Männer waren. Ob Franco deren Familien kannte. Ob die Behörden in New York von dem Drama wussten. Was mit den Leichnamen geschehen würde. Jede Antwort war quälender als die vorangegangene, und Marie hasste Franco dafür.
Am Ende stand sie der Wahrheit gegenüber: Sie hatte einen Lügner geheiratet. Einen Menschenhändler. Und einen Mörder.
Hätte jemand sie gefragt, was sie in diesem Moment fühlte, sie hätte es nicht gewusst. In ihr klaffte ein einziges großes Loch, dort, wo ihr Herz gewesen war. Nichts galt mehr, nichts hatte mehr Bedeutung in diesem Leben, nichts war mehr so, wie es sein sollte. Die Angst, verrückt zu werden, beschlich Marie. Und die Angst um das Kind, das in ihrem Bauch rumorte, als ob es sich die Ohren zuhielt, um die schreckliche Wahrheit nicht zu hören.
»Und jetzt?« Francos müde Stimme ließ sie aufschauen.
»Das fragst du mich?« Ihre grenzenlose Enttäuschungvermischte sich mit Hass und dem schmerzenden Bewusstsein, alles verloren zu haben. Vergeblich sträubte sie
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