Die Amerikanerin
weil Wanda plötzlich ein anderer Gedanke kam. »Wie weit liegen eigentlich Venedig und Genua voneinander entfernt?«
Richard zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Warum?«
»Hast du vielleicht einen Atlas, in dem wir nachschauen könnten?«, fragte Wanda wider besseres Wissen.
»Einen Atlas – ich? Wie soll ich denn zu dem kommen? Aber deine Tante hat einen, Anna hat ihn einmal mitgebracht. Wir wollten wissen, wie weit es bis zum Bayerischen Wald und zum Schwarzwald ist, wo es ja auch viele Glasbläser gibt. Die hätten wir gern einmal besucht …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was man halt so fantasiert, wenn der Winter lang ist. Aber jetzt sag, was soll deine Frage?«
Wanda verdrängte rasch den Anflug von Eifersucht, der sie bei Richards Worten überfallen hatte.
»Nun, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, soll Maries Niederkunft irgendwann im Mai stattfinden. Und da frage ich mich … was wäre, wenn ich sie in meiner noch verbleibenden Zeit besuchen wollte? Dass ihr ein Familienmitglied beisteht – dagegen dürfte doch keiner etwas einzuwenden haben, oder?«
Tatsächlich hatten sowohl Johanna als auch Ruth und Steven eine Menge dagegen einzuwenden. Sogar ThomasHeimer schaute noch mürrischer drein als sonst, als Wanda ihm von ihrem Plan erzählte. Alle führten an, dass es sich für ein junges, unverheiratetes Mädchen nicht ziemte, in Gesellschaft eines Mannes zu reisen, auch wenn sich ihre Wege schon kurz nach der italienischen Grenze trennen würden. Dass Wanda vorhatte, Richard nach ihrem Besuch bei Marie nach Venedig zu folgen, erwähnte sie wohlweislich erst gar nicht. Bei dem Gedanken, dass sie sich mutterseelenallein eine Zugverbindung von Genua nach Venedig suchen sollte, war ihr selbst nicht ganz wohl. Und auch ihre Heiratspläne verschwiegen die beiden noch. Wanda hatte Richard davon überzeugt, dass es der falsche Zeitpunkt war, sie zu verkünden. Ihre Eltern würden umso mehr um die Unschuld ihrer Tochter bangen, wenn sie von den Zukunftsplänen wüssten, dessen war Wanda sicher. Sie konzentrierte sich deshalb darauf zu wiederholen, dass sie vor lauter Sorgen um Marie fast verging. Es tröstete sie, dass dies nur ein bisschen gelogen war.
Mehrfach liefen die Drähte zwischen dem Postamt von Sonneberg und Ruths Wohnung in New York heiß. Da sie bei ihrer Mutter nicht weiterkam, rief Wanda sogar Steven in seinem Büro an. Als sie seine Stimme hörte, brach sie erst einmal in Tränen aus. Dann versicherte sie ihm in aller Ausführlichkeit, wie leid es ihr tat, ihn vor ihrer Abreise durch ihr kindisches Auftreten verletzt zu haben. Steven hatte Mühe, sie zu beruhigen. Schließlich gelang es ihm so weit, dass Wanda ihr Anliegen vorbringen konnte: Ob er denn nicht ein gutes Wort für sie einlegen könne? Es liege ihr nichts mehr am Herzen, als Marie wiederzusehen. Stevens Antwort lautete, er könne Wandas Sorge um die Tante zwar verstehen, er wäre sich jedoch nicht sicher, ob er in ihrem Sinn handelte, wenn er ihr die Erlaubnis zur Reise gab.
Und Wanda heulte erneut los.
Ein paar Tage später erschien ein Postbote in der Glasbläserei Steinmann-Maienbaum. In seiner Tasche hatte er ein Telegramm, für dessen Erhalt Wanda eigenhändig unterzeichnen sollte. Weil er sie nicht antraf, trat er fluchend den steilen Weg zur Heimer’schen Glasbläserei an.
Mit zitternden Händen nahm Wanda schließlich das Schriftstück entgegen. Sie hielt die Luft an, während sie es auseinanderfaltete. Hastig überflog sie die Zeilen, erst dann gestattete sie es sich auszuatmen.
Ihr Jubelschrei gellte durchs ganze Haus.
Trotz bleibender Bedenken hatten Ruth und Steven Wandas Italienreise zugestimmt. »… Marie zuliebe«. Sie hatten außerdem eine Postanweisung für einen stattlichen Geldbetrag geschickt.
25
»Der Arzt sagt, bei deinen Rückenschmerzen könne es sich um frühzeitige Wehen handeln.« Patrizia zog das Laken über Maries Leib glatt, dann stopfte sie das Tuch seitlich so fest unter die Matratze, dass Marie sich kaum noch bewegen konnte. Obwohl Patrizia die Vorhänge zugezogen hatte, war es hell und sehr warm im Zimmer.
Marie blinzelte erschrocken. Frühzeitige Wehen?!
»Und was bedeutet das?« Besorgt schaute sie erst ihre Schwiegermutter und dann den schnurrbärtigen Arzt an, der sich in sicherem Abstand zu ihrem Bett aufgestellt hatte. Seine Untersuchung hatte darin bestanden, dass er erst Maries Bauch und dann ihren Rücken durch ihr Nachthemd hindurch abtastete.
Weitere Kostenlose Bücher