Die Amerikanerin
Pathos und Mutter mit ihren vielen do’s and don’ts , die es in ihren Kreisen zu befolgen galt – dass sich die beiden so schnell auf ein Programm einigen würden, hatte sie nicht erwartet. Doch sie glaubte mittlerweile sogar eine gegenseitige Sympathie zu erkennen: Mutter war zwar nicht so weit gegangen, Pandora an einen der Tische zu setzen, aber immerhin hatte sie der Tänzerin in einem der Nebenräume ein komplettes Menü servieren lassen. Und Pandora, nach dem Debakel mit ihrem Vermieter noch immer in etwas gedämpfter Stimmung, schien ihrerseits dankbar für die Chance, ihrefinanzielle Misere durch Ruths großzügiges Honorar beheben zu können. Statt wie sonst über die konservative Geisteshaltung der feinen New Yorker Gesellschaft zu lästern, hatte sie sich diesmal zurückgehalten.
»Mutter freut sich sehr, dich heute hier zu haben. Sie ist der Meinung, dein Auftritt würde ihrem Fest einen gewissen Bohemian touch verleihen«, hatte sie der Tänzerin zugeflüstert. Als nun die ersten Takte der Musik erklangen, gratulierte Wanda sich dazu, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben: Zum einen hatte sie nun tatsächlich zur Gestaltung von Maries Ehrenfest beigetragen, zum anderen ihrer Tanzlehrerin aus der Patsche geholfen.
In ein silbern schillerndes Gewand gekleidet, betrat Pandora den Raum. Oder besser gesagt: Sie war plötzlich da, denn da sie barfuß lief, hatte niemand sie kommen hören. Die Gäste, die schon vorab von der Tanzeinlage erfahren hatten, begrüßten sie mit höflichem Applaus, aber ohne größeres Interesse. Sie waren nicht nur satt vom vorangegangenen Acht-Gänge-Menü, sondern auch von allzu vielen Aufführungen musischer Art, die sie allwöchentlich über sich ergehen lassen mussten.
Pandora verbeugte sich vor Ruths Tisch. Mit großer Geste zog sie dann ein paar Nadeln aus ihrem Haar, schüttelte es frei und begann mit einem beseelten Lächeln zu tanzen.
»Sieht sie nicht wunderschön aus?«, flüsterte Wanda mit einer Art mütterlichem Stolz Marie zu. »Wie ein wilder Paradiesvogel.«
»Schon, aber ich glaube, sie hat nicht einmal ein Korsett an«, gab Marie grinsend zurück. »Und auf einen Unterrock hat sie wohl auch verzichtet, oder? Glaubt sie, das macht man in Europa so?«
Nun fiel es auch Wanda auf: Bei jedem Schwung des glitzernden Stoffes konnte man Pandoras Beine bis hoch zu den Schenkeln sehen. O weh! Und es kam noch schlimmer:Bildete sie es sich ein, oder hatte sie tatsächlich gerade eine … Brustwarze blitzen sehen?
Verstohlen warf Wanda ihrer Mutter einen Blick zu, doch Ruth verzog keine Miene. Entweder schien sie Pandoras erotische Aufmachung weniger skandalös zu finden, oder sie war gewillt, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.
Während sich Pandoras Körper sanft zu den Klängen der Moldau hin und her bewegte, beobachtete Wanda die Gäste: Alle Augen waren nun auf die Tanzfläche gerichtet, Gespräche verstummten, in den Aschenbechern glühten verwaiste Zigarren vor sich hin. Auch Harold, gerade eben noch tief in eine Debatte mit Steven über irgendwelche Zahlen verwickelt, starrte wie gebannt nach vorn.
Wanda entspannte sich ein wenig. Alles war in bester Ordnung. Sie wollte kein Aufsehen, keinen Eklat. Nicht heute.
Pandora schien wie in Trance zu tanzen. Bald konnten weder die Geigen noch das Klavier gegen ihre wilden Bewegungen, ihre kraftvoll geschleuderten Schenkel und hüpfenden Brüste ankommen, fast kümmerlich klangen die Weisen nun. Aber wen scherte schon die Musik?
Harold stieß einen kleinen Pfiff aus. Entsetzt registrierte Wanda, wie es ihm ein paar Männer gleichtaten.
»Soll das wirklich ›Die Moldau‹ sein? Oder heißt der Tanz womöglich ›Die Niagarafälle‹?« Er griff nach Wandas Hand, seine Finger waren heiß und schwitzig.
Wütend riss sich Wanda los. Wann immer Pandora in ihre Nähe kam, versuchte sie, ihr ein Zeichen zu geben. Langsamer! Weniger! Herr im Himmel, hilf!
Sie hatte plötzlich das Gefühl, Zeugin eines unmoralischen Aktes zu sein, nur war sie sich nicht sicher, wer dabei unmoralisch handelte: die Tänzerin oder die Gäste mit ihren gierigen Blicken. Wandas Magen verknotete sich, drückte gegen ihre Lungen und machte ihr das Durchatmen schwer.
Pandora hatte sich inzwischen in einen Rausch getanzt. Sie sah weder die Gier der Männer noch die unterdrückte Lust in manchem Frauengesicht. Sie sah auch nicht die schockierten Blicke der zuvorderst sitzenden Damen. Und schon gar nicht Ruths starre
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