Die Amerikanerin
nicht erst mal in die Bar unten an der Ecke, bevor ich bei lebendigem Leib gefressen werde? Ich lade euch ein!«
Mit erzwungenem Frohsinn hakte sie sich bei Marie und Harold unter, so dass den beiden nichts anderes übrigblieb, als ihr zu folgen.
Harold drückte ihre Hand. »Ich warne dich, meine Liebe: Solltest du diesen schrecklichen Anislikör bestellen, den du so gern trinkst, ziehe ich den Groll deiner Mutter auf der Stelle vor!«
»Keine Angst, mir steht eher der Sinn nach einemSchnaps!«, erwiderte Wanda. Ihr Hals war allerdings so trocken, dass sie eigentlich ein großes Glas Wasser hätte trinken sollen.
»Ein Schnaps – jetzt hör dir die Kleine an!«, sagte Marie. »Am Ende sind wir alle betrunken – und was deine Mutter dann sagt, möchte ich gar nicht wissen.«
Wanda zuckte lakonisch mit den Schultern. »Manche
Dinge sind angeheitert einfach leichter zu ertragen.«
Marie kicherte. »Jetzt hast du dich gerade angehört wie dein Vater. Das hat er auch immer gesagt, wenn er mal wieder nicht mit Ruth klarkam.«
»Vater? Wieso?« Stirnrunzelnd drehte sich Wanda zu ihr um. »Der trinkt doch gar keinen Schnaps …«
13
»Ich … ich meinte ja auch nur …« Maries Blick floh den Gang entlang. Sie gewahrte entsetzt, dass Ruth mit düsterer Miene auf sie zukam.
»Der Löwe hat seine Höhle verlassen«, murmelte Wanda, die ihre Mutter im selben Moment entdeckt hatte. Sie löste sich von Maries Arm.
»Also, was hast du eben gemeint?«, fragte sie. Angriff war in ihren Augen immer noch die beste Verteidigung, und so kam ihr Maries seltsame Bemerkung als Ablenkungsmanöver gerade recht: Wenn sie noch eine Weile darauf herumritt, würde der Löwe vielleicht das Brüllen vergessen, spekulierte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Vater je zum Schnapsglas gegriffen hat, weil er und Mutter Streit hatten. Ihr seid doch stets ein Herz und eine Seele. Stimmt’s, Mutter?«
»Kann mir mal jemand sagen, worum es hier geht?«, fragte Ruth. Ein kleiner Nerv zuckte unter ihrem rechten Auge – der erste Vorbote einer nahenden Migräne.
»Um gar nichts!«, winkte Marie ab. »Würdest du mich bitte wieder hineinbegleiten? Ich lechze nach einem Glas Champagner und –«
»Also wirklich, Tante Marie! Du kannst doch Vater nicht als Trunkenbold hinstellen und es dabei belassen!« Wanda bemühte sich, eine arglose Miene aufzusetzen. »Oder gibt es womöglich etwas, was ich über meinen Vater wissen müsste?« Sie schlug einen gespielt vorwurfsvollen Ton an.
»Marie?« Ruths Wimpern flatterten unruhig. Unter ihren mit Rouge geschminkten Wangen war sie plötzlich sehr blass. »Was … was hast du ihr erzählt?«
Seltsam, Mutters Stimme klang so anders, so blechern! Sie schien zudem ihren Ärger über Wanda völlig vergessen zu haben. Ein komisches Gefühl regte sich in Wandas Bauch.
Harold räusperte sich erneut. »Wanda, Liebes, ich schlage vor, wir beenden unsere Unterredung zugunsten eines Tanzes.« Galant bot er ihr seinen Arm an. Nicht noch mehr Ärger machen, sagte sein Blick.
Wanda funkelte ihn an. »Also wirklich! Ich werde doch wohl um eine Antwort auf eine höfliche Frage bitten dürfen. Allmählich habe ich es satt, dass ihr immer so tut, als ob man mich nicht für voll nehmen könnte. Ich bin zwar noch jung, aber nicht dumm!«
»Nun, scheinbar weißt du nicht, dass man seine Eltern unter keinen Umständen auf ihre Jugendsünden ansprechen darf«, erwiderte Harold.
Sein gutmütiges Grinsen ärgerte Wanda auf einmal. Nie irgendwo anecken, niemals Ärger machen – typisch Harold! Zur Abwechslung hätte er ja auch einmal ihre Position einnehmen können. Aber bitte – sie konnte sich auch allein behaupten!
»Eine Jugendsünde …« Prüfend ließ sie das Wort über ihre Lippen rollen.
»Blödsinn!« Maries Lachen klang schrill. »Bei uns inLauscha hatten wir gar keine Zeit für Jugendsünden, wir waren schneller erwachsen, als … uns lieb war, nicht wahr, Ruth?«
Erschrocken registrierte Wanda den tödlichen Blick, den ihre Mutter Marie zuwarf.
Lass gut sein. Hake dich bei Marie ein und tu so, als hätte sie gar nichts gesagt, raunte eine Stimme in ihrem Innersten.
Warum? fragte eine andere Stimme im selben Moment. So zu tun, als ob nichts wäre, würde bedeuten, wie Mutter zu sein! Wanda schaute von einer zur anderen. Sie hatte das Gefühl, im selben Moment Zuschauer und Schauspieler eines Theaterstücks zu sein, das kurz vor seinem dramatischen Höhepunkt stand. Alle hatten ihre
Weitere Kostenlose Bücher