Die Amerikanerin
Plätze eingenommen und warteten auf das nächste Stichwort. Von ihr? Plötzlich schien jedes Wort und jede Regung eine ungeheure Bedeutung zu haben.
Warum schaute ihre Mutter drein, als hätte man sie beim Diebstahl von Tafelsilber erwischt?
Und warum sah Marie aus, als suche sie nach einem Loch, in dem sie verschwinden konnte?
Sie hatte doch nur von der missglückten Tanzeinlage ablenken wollen …
Vater ein Trunkenbold? Nie und nimmer. Etwas stank hier zum Himmel, und zwar gewaltig.
… waren schneller erwachsen geworden, als uns lieb war?? Steif wie eine Gliederpuppe drehte sich Wanda zu Marie um, als wolle sie den nächsten Moment so lange wie möglich hinauszögern.
»Marie … hast du womöglich … gar nicht über … Steven Miles gesprochen?« Die Stimme versagte ihr.
Niemand erwiderte etwas.
Wandas Hals war eng, ihre Kehle so trocken, dass ihre
Zunge fast am Gaumen klebte.
»Warum … warum seid ihr auf einmal so komisch? Mutter! Marie? … was?«
Ruths Blick verlor sich irgendwo in der Ferne, und Mariewar zur Salzsäule erstarrt. Beide schienen unfähig, etwas zu sagen oder zu tun.
Wanda wurde es schwindlig. War es möglich, dass sie auf einmal die Gedanken ihrer Mutter und die von Marie glasklar lesen konnte?
»Steven ist gar nicht … mein … Vater? Mutter, sag, dass das nicht stimmt!«
*
»Es ist die Hitze, Signor Conte! Die Hitze …« Anklagend zeigte der Mann nach draußen.
Wie ein Tier lief Franco die Länge der Bretterbude ab, die als Büro diente. Fünf Schritte vom Schreibtisch zu den Aktenregalen und wieder fünf zurück.
»Dass es heiß ist, weiß ich selbst!« Abrupt blieb er stehen. »Warum hast du mich nicht rufen lassen? Wir hätten früher mit dem Entladen beginnen können!«
»Aber Signor de Lucca! Sie selbst haben doch die Anordnung gegeben, erst dann zu entladen, wenn die entsprechenden Zollbeamten ihren Dienst verrichten …«
Franco begann erneut hin und her zu wandern. Verdammt, der Mann hatte recht!
»Es ist ja noch mal alles gutgegangen«, knurrte er. Allerdings war es noch knapper gewesen als bei der letzten Fuhre: Ein Junge war bereits ziemlich mitgenommen. Und der Großvater erst! Ob der die Nacht überleben würde …
Der Mann räusperte sich. »Nun, da die Fracht versorgt ist – gibt es noch etwas zu tun? Ich meine, haben Signore noch einen besonderen Wunsch?« Er drehte an seinen langen Stirnfransen, während er der Tür einen sehnsüchtigen Blick zuwarf.
Franco verabschiedete ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. Es war genug geredet worden. Und es nutzte nichts, wenn er die Falschen zu Sündenböcken machte. DerFehler war in Genua passiert, ganz eindeutig! Zehn, zwanzig Fässer Wein weniger hätten mehr Luft für die Männer bedeutet. Vielleicht hätte man auch die Luken weiter öffnen sollen, es war schließlich Hochsommer!
Als der Mann gegangen war, schloss Franco den Schuppen zu. Er war hundemüde, und doch wusste er, dass der Schlaf in dieser Nacht nicht so einfach kommen würde. Vielleicht nach zwei, drei Gläsern Wein …
Doch statt sich auf den Weg in Richtung Mulberry Street zu machen, setzte er sich auf eines der leeren Blechfässer, die seinen Lagerarbeitern in den Pausen als Tisch und Sitzgelegenheiten dienten, und starrte aufs Wasser. Eine Flotte Fischkutter setzte sich gerade in Bewegung, auf das offene Meer zu. Ihre Lichter schwankten sachte auf den Wellen. Genua–New York. Ein langer Weg, vor allem, wenn man ihn unter Deck verbrachte, eingesperrt zwischen Hunderten von Fässern Wein, ohne die Möglichkeit, frische Luft zu schnappen, ohne Wasser zum Waschen, nur mit einer minimalen Ration an Essen und Trinken. Anfänglich hatten sie aus diesen Gründen nur junge, gesunde Burschen akzeptiert. Ob die schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren – wen kümmerte es? Die de Luccas jedenfalls nicht, solange die Kerle ihr Fahrtgeld bezahlen konnten. Doch bald hatte sich herausgestellt, dass diese Art der Reise ins Exil vor allem von den weniger jungen und gesunden Männern favorisiert wurde, von solchen eben, die auf offiziellem Wege die Gesundheitskontrollen der Einwanderungsbehörde nie passiert hätten. Inzwischen waren meistens auch ein paar ältere Männer an Bord, obwohl er, Franco, immer wieder bei seinem Vater dafür plädiert hatte, die Leute sorgfältiger auszusuchen.
Fahrig zündete Franco sich eine Zigarette an und sog gierig den Rauch ein.
Was, wenn der Alte während der Überfahrt
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