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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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näher heran, um sie lesen zu können.
    Aronstab. Balsamstrauch. Blasentang. Hirschzunge. Drachenblutklumpen. Gänsefingerkraut. Jalapenwurzel. Echtes Mädesüß. Hiobsträne.
    Der Typ stieg auf die Leiter und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ein Glas vom obersten Regal zu nehmen.
    Auf dem Etikett stand
Baldrianwurzel
.
    Er kam damit zur Theke zurück, schraubte den Deckel ab und schaufelte sich mit einem Löffel ein bisschen der erdähnlichen Substanz in die offene Hand.
    Er verglich es mit dem Inhalt des Plastikbeutels.
    »Dieselbe Textur, derselbe Geruch«, murmelte er vor sich hin.
    »Was ist das?«, fragte Nora.
    »Baldrianwurzel.«
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Ein Kraut. Mit einer ziemlich düsteren magischen Reputation.«
    »Magischen Reputation?«
    Er nickte, unbeirrt von meiner Skepsis. »Sicher. Baldrianwurzel wird oft bei schwarzer Magie eingesetzt. Für Flüche. Liebeszauber. Fluchaufhebung. Das ist ein bisschen so, wie ein Bondage-Kostüm im Schrank des besten Freundes zu finden. Eine ziemlich eindeutige Sache, verstehen Sie?«
    Ich war nicht ganz sicher, ob ich verstand, aber ich nickte trotzdem.
    »Sie sagten, es war in einem besonderen Muster ausgelegt?«, fragte er.
    »Ja.« Ich zeigte ihm die Fotos auf meinem BlackBerry.
    »Außerdem haben wir dieses Bündel gefunden«, sagte Nora und zeigte auf den anderen Beutel, der auf der Theke lag. »Die waren über dem Türrahmen der Wohnungstür versteckt.« Der Typ sah sie sich stirnrunzelnd an, griff dann in einen Karton links von ihm und zog sich Latexhandschuhe an. Damit zog er das Bündel Stöcke heraus.
    »Wo haben Sie das gefunden?«, fragte er ungewiss.
    »In dem Zimmer, in dem ein Freund zur Miete wohnte«, antwortete ich.
    Er sah sich eine der Wurzeln im Licht an und drehte sie zwischen den Fingern. »Das ist was für Fortgeschrittene. Sie sollten mit Cleopatra reden. Ich guck mal, ob sie Zeit hat.«
    Er riss einen schweren schwarzen Samtvorhang an der hinteren Wand zur Seite und verschwand dahinter. Ich konnte einen Blick auf einen in schummrig rotes Licht getauchten Raum erhaschen, in dem ein paar Kerzen brannten.
    »Pass auf dein Portemonnaie auf«, sagte ich zu Nora. »Die halten uns für dicke Fische. Wir erhalten Zugang zu dem Raum, wo es um die großen Einsätze geht. Gleich bieten sie uns an, einen Blick in die Zukunft zu werfen, Kontakt mit den Toten aufzunehmen und irgendwelchen seelenreinigenden Krimskrams zu kaufen, der uns vor bösen Schwingungen beschützt und ein paar Tausend Dollar kostet.«
    »Psst«, warnte sie mich, als der hispanische Typ seinen Kopf durch den Vorhang streckte.
    »Sie empfängt Sie«, sagte er und hielt uns den Vorhang auf.
    Nora griff ihre Plastikbeutel und ging erwartungsvoll hinter ihm her, als hätte man ihr gerade eine Einzelaudienz beim Papst in dessen Privatgemächern gewährt.
    Ich folgte ihnen mit einem stummen Ave Maria.

44
    Es war ein kleiner Hinterraum mit düsterem, rotem Licht, abbröckelndem Mauerwerk, mit schwarzem Stoff verhängten Wänden, einem runden Tisch mit Klappstühlen und darüber einer roten Buntglaslampe.
    Eine Frau –
Cleopatra
, nahm ich an – stand mit dem Rücken zu uns hinter einer unaufgeräumten Theke und sprach in ein schnurloses Telefon. Sie war groß und dick, trug einen weiten schwarzen Bauernkittel, Jeans und alte rote Doc Martens. Ihr halblanges, rabenschwarzes Haar, das mit lila Strähnchen durchsetzt war, saß auf ihren Schultern wie ein Lampenschirm.
    »Setzen Sie sich«, sagte der hispanische Typ und stellte uns Stühle vor dem Tisch auf. »Ich bin übrigens Dexter.«
    »Klar, lass uns das bei ihm ausprobieren«, sagte Cleopatra ins Telefon. Ihre Stimme klang flach und emotionslos. »Die Wacholderbeeren. Mal sehen, wie er reagiert. Wenn er nicht anruft, um sich zu einem dritten Date zu verabreden, versuchen wir was Stärkeres.«
    Sie legte das Telefon ab und drehte sich um.
    Sie war Asiatin – ich tippte auf Koreanerin –, Ende vierzig, mit einem rundlichen, ausdruckslosen Gesicht. Sie hatte Bluebird-Federn in ihr Haar gesteckt und trug so viele Armreifen, Manschetten, umherbaumelnde Totenkopfohrringe und Halsketten – an einer hing als Anhänger ein langer mächtiger Tigerzahn –, dass sie klapperte und klirrte, als sie auf uns zutrat, ein bisschen wie ein Sack Abfall, der in den Müllwagen geworfen wird.
    »Ich bin Cleo«, verkündete sie mit starrer Miene. »Ich höre, Sie haben Hinweise auf einen schwarzen Zauber gefunden.«
    »Wir wissen

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