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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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aufgehoben?«
    »Keine Ahnung. Ein Zauber funktioniert wie ein ganz primitives Antibiotikum. Man muss verschiedene ausprobieren, bis man einen findet, der wirkt. Ein starker Zauber kann dagegen resistent sein, wie ein Bakterienstamm, der sich ständig weiterentwickelt und so auf dem Wirt gedeiht. Haben Sie in letzter Zeit mit Ihrer Freundin gesprochen? Wie geht es ihr?«
    Nora sah mich unsicher an.
    »Was ist mit diesen Zweigen, die wir über der Tür gefunden haben?«, fragte ich.
    Cleo lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete das Bündel auf dem Tisch. »Das ist Scharlachroter Knöterich. Eine in der Natur vorkommende Wurzel, die zu den Geißblattgewächsen gehört. Sie wächst auf Wildwiesen und in Wäldern. Sie hat schützende Wirkung. Im tiefen Süden der USA macht man Fußringe daraus. Oder man übergießt sie mit Whiskey und vergräbt sie. Man kann es auch so machen wie Ihre Freundin. Man nimmt neun davon, macht neun Knoten, und dann versteckt man sie in der Nähe der Wohnungstür oder unter der Veranda. Manche vergraben sie auch vor dem Haus.«
    »Welche Wirkung hat es?«, fragte ich.
    Sie starrte mich einen Moment lang an, bevor sie antwortete. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu entziffern.
    »Es bringt den Teufel zum Stolpern.«
    »Zum
Stolpern

    »Hält ihn auf. Lässt ihn innehalten.«
    »Verstehe«, sagte ich und nahm die Wurzeln auf. »Keine Ahnung, warum die USA sechshundert Milliarden für die nationale Verteidigung ausgeben. Wir müssten einfach nur dafür sorgen, dass jede amerikanische Familie ein paar davon hat.«
    Cleo war den Umgang mit Skeptikern und Ungläubigen offensichtlich gewohnt – sie ließ sich davon überhaupt nicht beirren. Sie antwortete nicht, verschränkte bloß ihre ringbewehrten Finger – Totenköpfe, Ankh Kreuze, ein Katzenkopf – auf dem Knie.
    »Hat Ihre Freundin vor Sonnenaufgang gebadet?«, fragte sie.
    »Ja«, sagte Nora. »In eiskaltem Wasser.«
    Ich wollte Nora gerade fragen, wovon sie redete, als ich mich plötzlich an den seltsamen Vorfall erinnerte, von dem Iona erzählt hatte – als sie frühmorgens Ashley in der Badewanne gefunden hatte.
    »Also hat sie Reinigungsrituale durchgeführt«, sagte Cleo und nickte.
    »Wozu sind die gut?«, fragte ich.
    »Sie reinigen von dem Bösen. Eine Zeitlang. Die Wirkung ist nicht von Dauer. Eher wie ein Pflaster. Hat sie den Fußboden gewischt?«
    Nora sah zu mir herüber. »Das wissen wir nicht.«
    »Fühlte sie sich kalt an?«
    »Keine Ahnung«, antwortete ich.
    »Ist Ihnen aufgefallen, dass sie Schwierigkeiten zu kommunizieren hatte? Als hätte sie den Mund voll Erdnussbutter oder Sand?«
    »Wir wissen es nicht.«
    »Was ist mit einer besorgniserregenden Schwere?«
    »Das heißt?«
    Cleo zuckte mit den Schultern. »Ich habe von Leuten gehört, auf denen längere Zeit ein schwerer Fluch lastete. Wenn die auf eine normale Waage steigen, wiegen sie bis zu hundertundvierzig, manchmal sogar hundertundachtzig Kilo, obwohl sie dem Anschein nach sehr dünn geworden sind.«
    »Das wissen wir auch nicht«, antwortete ich, doch mir kam unvermittelt eine verstörende Vision meiner ersten und einzigen Begegnung mit Ashley, als sie um den Reservoir See gewandert war – diese seltsame, tranceartige Haltung, die schweren Schritte, die durch den Regen schallten.
    Cleo kam plötzlich ein neuer Gedanke. Sie nahm mein BlackBerry und scrollte stirnrunzelnd durch die Bilder.
    »Was ich hier nicht erkennen kann, ist eine Umkehr. Wenn man es mit schwarzer Magie zu tun hat, muss man den Fluch aufheben, aber auch umkehren, damit er wie ein Bumerang auf den Verursacher zurückfällt.« Sie sah uns an. »Ein Zauber ist nichts anderes als Energie. Sie können sich das wie geladene Teilchen vorstellen, die man auf einen einzigen Punkt konzentriert. Die müssen irgendwohin. Energie wird weder erzeugt noch zerstört, nur übertragen. Ich sehe hier keinen Hinweis auf diese Übertragung, und das macht mir Sorgen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und dachte nach, wobei sie den Zahnanhänger zwischen den Fingern drehte. »Sind Ihnen in dem Zimmer irgendwelche Umkehrkerzen aufgefallen?«
    »Was sind Umkehrkerzen?«, fragte Nora.
    »Unten weißes Wachs, oben schwarzes.«
    Nora schüttelte den Kopf.
    »Oder ein Karton voller Gegenstände?«
    »Nein.«
    »Kein Spiegelkasten«, flüsterte Cleo vor sich hin.
    »Was ist ein Spiegelkasten?«, fragte ich.
    Sie warf mir einen Blick zu. »Der wird für einfache Umkehrungen verwendet. Man nimmt eine

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