Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Gotha (der spannenderweise gleichzeitig Nazi und Brite war), und Gustaf nach seinem Vater, seinem Großvater väterlicherseits sowie dessen Vater.
Der kleine Prinz hatte einen schlechten Start ins Leben. Als er gerade mal neun Monate alt war, verlor er seinen Vater durch einen Flugzeugabsturz. Damit entstand eine dramatische Lücke in der Thronfolge. Sein Großvater, Gustaf VI . Adolf, musste nun nämlich das Alter von neunundachtzig Jahren erreichen, um zu verhindern, dass eine Leerstelle entstand, die den Republikanern im Reichstag enormen Auftrieb gegeben hätte.
Daher argumentierten die Ratgeber bei Hofe, dass der Erbprinz bis zur Sicherung der Thronfolge hinter den meterdicken Schlossmauern eingesperrt werden sollte, doch seine liebevolle Mutter Sibylle weigerte sich. Ohne Freunde würde ihr Sohn schlimmstenfalls verrückt, bestenfalls aber ein unausstehlicher Mensch werden.
Daher durfte der Prinz eine ganz normale Schule besuchen, in seiner Freizeit seinem Interesse für Motoren nachgehen und sich bei den Pfadfindern engagieren, wo er lernte, Kreuzknoten, Schotstek und Halbmastwurf schneller und besser zu knüpfen als alle anderen.
In der Mittelschule Sigtuna konnte er jedoch keine befriedigende Note in Mathematik erzielen, und in allen anderen Fächern erreichte er auch nur mit Müh und Not sein Genügend. Die Erklärung war die, dass ihm die Buchstaben und Ziffern heillos durcheinandergerieten – der Kronprinz hatte Dyslexie. Dass er Klassenbester im Mundharmonikaspielen war, verschaffte ihm höchstens bei den Mädels einen Pluspunkt.
Dank Mutter Sibylles Fürsorge hatte er nun aber doch eine ganze Reihe von Freunden in der richtigen Welt, auch wenn keiner von ihnen zur radikalen Linken gehörte, zu der sich im Schweden der Sechzigerjahre so gut wie alle anderen bekannten. Die Haare wachsen zu lassen, in einer WG zu wohnen und der freien Liebe zu frönen, war nichts für einen zukünftigen Regenten, auch wenn er fand, dass Letzteres eigentlich ganz gut klang.
Sein Großvater väterlicherseits, Gustaf Adolf, hatte »Die Pflicht über alles« zu seinem Wahlspruch erkoren. Vielleicht lebte er deswegen bis zu seinem 90. Geburtstag. Erst im September 1973 entschlief er, als sein Enkel alt genug war, die Regierung zu übernehmen, und das Königshaus somit gerettet war.
Da man sich mit der Königin von England nicht unbedingt über Kreuzknoten oder vollsynchronisierte Wechselmotoren unterhalten kann, fühlte sich der junge Regent nicht immer so ganz wohl in den feinen Salons. Im Laufe der Jahre wurde es aber besser, vor allem weil er sich immer mehr traute, einfach er selbst zu sein. Nach über drei Jahrzehnten auf dem Thron war ein Galadiner auf dem Schloss zu Ehren von Hu Jintao eine Routineangelegenheit, die er im Schlaf absolvieren konnte. Doch am liebsten wäre er solchen Sachen ganz aus dem Weg gegangen.
Die momentane Alternative, eine Entführung per Kartoffellaster, war natürlich nichts, worum der Mensch sich reißen würde, aber der König war überzeugt, dass sich das auch irgendwie regeln ließ.
Wenn bloß der Ministerpräsident sich wieder einkriegen würde.
Und hinhören würde, was die Kidnapper zu sagen hatten.
* * * *
Ministerpräsident Reinfeldt hatte nicht vor, sich auf eine von diesen schmutzigen Kartoffelkisten zu setzen. Außerdem war es überall staubig. Und auf dem Boden lag Erde. Aber zuhören konnte er immerhin.
»Na gut«, sagte er und wandte sich Holger 2 zu. »Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, uns zu erklären, was hier eigentlich vor sich geht?«
Seine Worte waren höflich, sein Ton herrisch, und seine gereizte Stimmung gegenüber dem König legte sich auch nicht.
Nummer zwei hatte sein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten zwanzig Jahre lang einüben können. Er war eine fast unendliche Anzahl von Szenarien durchgegangen – doch keines davon berücksichtigte die Möglichkeit, dass er mit dem Ministerpräsidenten in einen Kartoffellaster eingesperrt sein könnte. Mit der Bombe. Und dem König. Und seinem königsfeindlichen Bruder am Steuer. Auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel.
Während Holger 2 nach Worten und der richtigen Idee suchte, saß sein Bruder vorne und überlegte laut, was sie als Nächstes anfangen sollten. Papa hatte ganz deutlich gesagt: »Fahr zu, mein Sohn, fahr zu«, mehr aber auch nicht. Sie konnten den König ja nicht einfach so vor die Wahl stellen, entweder abzudanken und dafür zu sorgen, dass ihm niemand nachfolgte, oder sich auf die Bombe
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