Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Nombekos Anraten den König an und wurde mit einem Hofsekretär verbunden, der ungefähr dieselben Antworten gab wie die Assistentin des Ministerpräsidenten, bloß arroganter.
In der besten aller Welten hätte der Ministerpräsident (oder zumindest der König) das Telefon abgenommen, hätte sich die Information angehört, sich sofort nach Gnesta begeben und dort die Bombe mitsamt Verpackung abgeholt. Und zwar, bevor Holgers potenziell umstürzlerischer Bruder die Kiste auch nur entdecken, Fragen stellen und – Gott bewahre – selbst anfangen konnte zu denken.
Na ja … in der besten aller Welten eben.
In der wirklichen Welt lief es stattdessen so, dass Nummer eins und die junge Zornige durch die Lagertür traten. Sie waren gekommen, um sich zu erkundigen, warum die Blutwurst, die sie gerade aus Nummer zweis Kühlschrank nehmen wollten, verschwunden und die ganze Wohnung voll schlafender Chinesen war. Nun kamen noch ein paar Fragen hinzu: Etwa, wer die Schwarze auf der Kiste in der Ecke war. Und auf was für einer Kiste die da überhaupt saß.
Nombeko entnahm der Körpersprache der Neuankömmlinge, dass sie selbst und die Kiste sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befanden, und sagte, sie würde sich gerne am Gespräch beteiligen, wenn man es auf Englisch führen könnte.
»Sind Sie Amerikanerin?«, fragte die junge Zornige, gefolgt von der Aussage, sie hasse Amerikaner.
Nombeko erklärte, sie sei Südafrikanerin und halte es ansonsten für ziemlich anstrengend, alle Amerikaner zu hassen, denn das seien ja doch ganz schön viele.
»Was ist in der Kiste?«, fragte Holger 1.
Holger 2 antwortete, indem er nicht antwortete. Stattdessen erzählte er, dass die drei Chinesenmädchen in der Wohnung und diese Frau hier alle politische Flüchtlinge seien und eine Weile mit im Abbruchhaus wohnen würden. Bei der Gelegenheit drückte Nummer zwei sein Bedauern aus, dass die Blutwurst verzehrt worden war, bevor Nummer eins sie klauen konnte.
Ja, das fand sein Bruder auch ärgerlich. Aber was war mit der Kiste? Was war da drin?
»Meine persönliche Habe«, sagte Nombeko.
»Deine persönliche Habe?«, wiederholte die junge Zornige in einem Ton, der verriet, dass sie nähere Erklärungen erwartete.
Nombeko merkte, dass die Neugier bei Nummer eins und seiner Freundin von Minute zu Minute wuchs. Also war es vielleicht doch angebracht, ein bisschen zu bluffen.
»Meine persönliche Habe«, sagte sie noch einmal, »die den ganzen weiten Weg aus Afrika herkommt. Genau wie ich. Ich bin gleichzeitig nett und unberechenbar. Einem alten Mann habe ich tatsächlich mal eine Schere in den Oberschenkel gerammt, weil er sich nicht benehmen konnte. Und bei anderer Gelegenheit … ist es wieder passiert. Demselben alten Mann, bloß mit einer neuen Schere und in den anderen Oberschenkel.«
Die Situation überforderte Holger 1 und seine Freundin. Die Frau auf der Kiste hatte ganz freundlich geklungen, deutete aber zugleich an, dass sie mit einer Schere angreifen könnte, wenn man ihre Kiste nicht in Frieden ließ.
Nummer eins fasste also die junge Zornige unter, murmelte den beiden anderen ein Tschüss zu und zog ab.
»Ich glaube, ganz unten im Kühlschrank hab ich noch Fleischwurst«, rief Nummer zwei ihm nach. »Ihr könntet natürlich auch in Erwägung ziehen, euch mal eigenes Essen zu kaufen.«
Holger 2, Nombeko und die Bombe blieben allein im Lager zurück. Nummer zwei sagte zu Nombeko, sie habe sicher begriffen, dass sie gerade seinen republikanischen Bruder und dessen zornige Freundin kennengelernt habe.
Nombeko nickte. Diese beiden und eine Atombombe auf demselben Kontinent zu wissen, konnte einen schon nervös machen. Geschweige denn im selben Land. Und jetzt wohnten sie auch noch im selben Haus. Dieses Problem mussten sie wirklich so schnell wie möglich in Angriff nehmen, aber jetzt war erst mal ein bisschen Ruhe angesagt. Es war schließlich ein langer und ereignisreicher Tag gewesen.
Holger 2 stimmte ihr zu. Lang und ereignisreich, weiß Gott.
Nombeko bekam von Nummer zwei Decke und Kissen, dann ging er mit der Matratze unterm Arm voran, um ihr den Weg zu ihrer Wohnung zu zeigen. Er öffnete die Tür, stellte seine Last ab und sagte, ein Schloss sei es zwar nicht gerade, aber er hoffe, sie werde sich hier trotzdem wohlfühlen.
Nombeko bedankte sich, verabschiedete sich für diesmal und blieb alleine auf der Schwelle stehen. Dort verharrte sie eine Weile und philosophierte.
Auf der Schwelle zu einem eigenen Leben,
Weitere Kostenlose Bücher