Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
bessere Arbeitsbedingungen als in den indischen Teepflanzungen. Vielleicht war das aber auch alles gelogen. Die Leute logen einfach so verdammt viel in diesem Land.
Nombeko setzte sich in die Küche der jungen Zornigen und bemerkte, dass wahrscheinlich in allen Ländern fleißig gelogen wird. Und dann begann sie mit der einfachen, allgemein gehaltenen Frage:
»Wie geht es dir denn so?«
Worauf sie eine zehnminütige Antwort bekam. Denn der jungen Zornigen ging es gar nicht gut.
Wie sich herausstellte, war sie zornig auf alles. Sie war zornig, dass die Nation sich weiterhin von der Kernkraft abhängig machte. Und vom Öl. Sie war zornig über alle für Kraftwerke ausgebauten Flüsse. Über die lauten und hässlichen Schnellläufer, die Windenergie lieferten. Über die Tatsache, dass man eine Brücke nach Dänemark bauen wollte. Auf alle Dänen, weil sie Dänen waren. Auf die Nerzzüchter, weil sie Nerzzüchter waren. Auf die Tierzüchter im Allgemeinen. Auf alle, die Fleisch aßen. Auf alle, die das nicht taten (an dieser Stelle verlor Nombeko einen Augenblick den Faden). Auf alle Kapitalisten. Auf fast alle Kommunisten. Auf ihren Vater, weil er in der Bank arbeitete. Auf ihre Mutter, weil sie überhaupt nicht arbeitete. Auf ihre Großmutter, weil sie gräfliche Vorfahren hatte. Auf sich selbst, weil sie sich zur Lohnsklavin machen ließ, statt die Welt zu verändern. Und auf die Welt, die keine vernünftige Lohnsklaverei zu bieten hatte.
Zornig war sie auch über den Umstand, dass Holger und sie gratis in diesem Abbruchhaus wohnten, weil es auf diese Art keine Miete gab, deren Zahlung sie hätte verweigern können. O Gott, wie sie sich danach sehnte, auf die Barrikaden zu gehen! Was sie jedoch am zornigsten machte, war die Tatsache, dass sie keine einzige vernünftige Barrikade fand, auf die sie hätte gehen können.
Nombeko dachte sich, dass die junge Zornige eine Weile als Schwarze in Südafrika arbeiten und vielleicht ein, zwei Latrinentonnen leeren sollte, um mal eine gesunde Perspektive aufs Leben zu gewinnen.
»Und wie heißt du?«
Kaum zu glauben, aber die junge Zornige konnte tatsächlich noch ein bisschen zorniger werden. Sie hatte nämlich einen so grässlichen Namen, dass man ihn gar nicht sagen konnte.
Doch Nombeko insistierte und bekam den Namen am Ende doch zu hören.
»Celestine.«
»Oh, aber das ist doch wunderschön«, meinte Nombeko.
»Das war Papas Idee. Ein Bankdirektor. Pfui Teufel!«
»Wie soll man dich denn nennen, wenn man seine Gesundheit nicht gefährden will?«, fragte Nombeko.
»Alles, nur nicht Celestine«, sagte Celestine. »Wie heißt du denn eigentlich?«
»Nombeko.«
»Na, sag mal, das ist aber auch ein dämlicher Name.«
»Danke«, sagte Nombeko. »Ist wohl noch etwas Tee da?«
Da Nombeko nun mal so hieß, wie sie hieß, bekam sie nach der zweiten Tasse Tee auch die Erlaubnis, Celestine Celestine zu nennen. Und ihr am Ende die Hand zu geben, um sich für den Tee und das Plauderstündchen zu bedanken. Auf der Treppe beschloss sie, sich Holger 1 erst am nächsten Tag vorzunehmen. Den Feind kennenzulernen, war ganz schön kräftezehrend.
Das Beste, was Nombeko von der Begegnung mit der Frau mitnahm, die nicht so heißen wollte, wie sie hieß, war die Erlaubnis, ihren Leihausweis für die Bibliothek in Gnesta zu benutzen. So einen brauchte ein politischer Flüchtling, der aus seinem Lager weggelaufen war. Außerdem fand die junge Zornige, dass alles, was man sich dort ausleihen konnte, auf die eine oder andere Art doch nur bürgerliche Propaganda war. Abgesehen vom Kapital von Karl Marx, das war nur halb bürgerlich, aber das gab es bloß auf Deutsch.
Bei ihrem ersten Besuch in der Bibliothek lieh sich Nombeko einen schwedischen Sprachkurs mit den dazugehörigen Kassetten aus.
Holger 2 hatte einen Kassettenrekorder, und auf dem hörten sie sich die ersten drei Lektionen gemeinsam an, während sie auf den Kissen auf der Kiste im Lager saßen.
» Hallo. Wie geht’s? Mir geht es gut «, sagte der Kassettenrekorder.
»Mir auch«, sagte Nombeko, die sehr schnell lernte.
Irgendwann am Nachmittag hatte sie das Gefühl, dass es jetzt an der Zeit war, sich Holger 1 zu widmen. Sie ging zu ihm und kam ohne Umschweife zum Thema.
»Es heißt, dass du republikanische Gedanken hegst?«
O ja, die hege er, bestätigte Holger 1. Das sollten überhaupt alle. Die Monarchie sei das absolute Verderben. Das Problem sei nur, dass er so gar keine Ideen hatte.
Nombeko gab zu bedenken,
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