Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Worten:
»Vierundachtzigtausendvierhundertachtzig.«
»Dir auch einen guten Morgen«, erwiderte Holger. »Was redest du da?«
Die Sache war die, dass er die ganze Zeit darüber gejammert hatte, keine ordentliche Übergabe mit dem überarbeiteten Vorgänger im Unternehmen gemacht zu haben, weil der es mit dem Sterben gar so eilig gehabt hatte. So war es zum Beispiel unmöglich, den genauen Bestand des Kissenlagers anzugeben.
Doch nun drückte Nombeko ihm vier Blätter in die Hand. Während Holger im Bett lag und faulenzte, hatte sie das Lager abgeschritten, das Volumen eines Kissens ermittelt und auf Grundlage dieser Zahlen den Gesamtbestand errechnet.
Holger betrachtete die erste Seite und verstand bloß Bahnhof. Nombeko meinte, das sei nicht weiter überraschend, denn man müsse die Gleichung als Ganzes sehen.
»Hier, schau her«, sagte sie und blätterte um.
»Schatten E?«, fragte Holger, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Ja, ich hab das Volumen des Lagers ausgemessen, als die Sonne reinschien.«
Woraufhin sie noch einmal umblätterte.
»Wer ist denn das Strichmännchen?«, fragte Holger, dem immer noch nichts Besseres einfiel.
»Das bin ich«, sagte Nombeko. »Vielleicht ein bisschen zu weiß im Gesicht, aber ansonsten finde ich, ich hab mich ganz gut getroffen, wenn ich das mal so sagen darf. Da der Ingenieur die Freundlichkeit hatte, mich mit einem Pass auszustatten, weiß ich, wie groß ich bin. Da musste ich nur noch meinen Schatten im Verhältnis zum Lager messen. Die Sonne steht in diesem Land ja vorbildlich tief, weiß der Teufel, was ich am Äquator gemacht hätte. Oder wenn es geregnet hätte.«
Als Holger immer noch nichts kapierte, versuchte Nombeko es noch einmal anders.
»Das ist total simpel«, sagte sie und wollte gerade wieder umblättern, als Holger ihr ins Wort fiel.
»Nein, ist es nicht. Hast du die Kissen auf der Kiste auch mitgezählt?«
»Ja. Alle fünfzehn.«
»Und das auf dem Bett in deinem Zimmer?«
»Das hab ich vergessen.«
12. KAPITEL
Von Liebe auf einer Atombombe und differenzierter Preisgestaltung
Für Holger 2 und Nombeko war das Dasein einigermaßen kompliziert. Aber sie waren damals nicht die Einzigen, die sich mit Problemen herumschlagen mussten. Ganze Länder ebenso wie Fernsehsender zerbrachen sich weltweit die Köpfe, wie man sich zu der Tatsache stellen sollte, dass am 70. Geburtstag von Nelson Mandela, im Juni 1988, ein Geburtstagskonzert für ihn stattfand. Immerhin war Mandela ja ein Terrorist, und das hätte er auch weiterhin bleiben können, hätte nicht ein Weltstar nach dem anderen die gegenteilige Meinung kundgetan und seine Teilnahme an dem Konzert im Londoner Wembley-Stadion zugesagt.
Die Lösung des Dilemmas musste für viele so aussehen, dass sie sich einerseits positiv zu diesem Konzert stellten, andererseits aber auch nicht. So erzählte man sich zum Beispiel, dass der amerikanische Sender Fox Television, der das Konzert nicht live übertrug, sondern aufzeichnete, erst alles wegschnitt, was irgendwie politisch klang – sowohl Gesprochenes als auch Gesungenes –, um Coca-Cola nicht zu verärgern, die die Werbepausen vor, während und nach dem Konzertmitschnitt gekauft hatten.
Trotzdem sahen über sechshundert Millionen Menschen in siebenundsechzig Ländern dieses Konzert. Es gab eigentlich nur ein Land, das die Ereignisse völlig totschwieg.
Südafrika.
* * * *
Ein paar Monate später gelang es den Sozialdemokraten und Ingvar Carlsson, bei den schwedischen Reichstagswahlen an der Regierung zu bleiben.
Leider.
Nicht dass es Holger 2 und Nombeko um den ideologischen Aspekt dieses Wahlergebnisses zu tun gewesen wäre, doch wenn Carlsson auf seinem Posten blieb, war es völlig zwecklos, sich erneut in seiner Regierungskanzlei zu melden. Und so blieb die Bombe, wo sie war.
Am bemerkenswertesten an diesen Wahlen war ansonsten sicher die Tatsache, dass die Umweltpartei als neue politische Bewegung in den Reichstag einzog. Weniger Aufmerksamkeit erregte es, dass die nicht existierende »Nieder mit dem ganzen Scheiß«-Partei eine für ungültig erklärte Stimme bekam, abgegeben von einem Mädchen in Gnesta, das gerade achtzehn Jahre alt geworden war.
Am 17. November 1988 jährte sich der Tag, an dem Nombeko in die Abrissbude eingezogen war. Daher wurde sie mit einer Torte auf der Kiste im Lager überrascht. Die drei Chinesenmädchen waren zwar am selben Tag angekommen, wurden aber nicht eingeladen. Nur Nombeko und Holger, so wollte er
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