Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
es. Sie auch.
Der war schon wirklich furchtbar süß, der Holger, dachte sie und gab ihm ein Küsschen auf die Wange.
Holger 2 hatte sein ganzes Erwachsenenleben lang davon ge träumt, dass es ihn gab und zwar in einem sozialen Zusammenhang . Er sehnte sich nach einem normalen Leben mit Frau und Kindern und einer anständigen Arbeit, egal, was für einer, solange sie bloß nichts mit Kopfkissen zu tun hatte. Oder Königshäusern.
Mama-Papa-Kind – das wäre was. Er selbst hatte ja nie eine Kindheit gehabt. Wo seine Klassenkameraden Batman und Sweet an die Wände ihrer Kinderzimmer hängten, hatte Holger ein Porträt des finnischen Präsidenten.
Aber würde es ihm jemals gelingen, eine potenzielle Mutter für die eventuellen Kinder seiner hypothetischen Familie zu finden? Eine, die sich damit zufriedengab, dass er für sie und die Kinder existierte, nicht aber für den Rest der Gesellschaft. Und dass die Familie deswegen in einem Abbruchhaus leben musste. Und dass das nächstliegende Spiel für die Kinder darin bestand, sich Kissenschlachten neben einer Atombombe zu liefern.
Nein, das ging natürlich nicht.
Das Einzige, was ging, war die Zeit.
Aber im Laufe derselben war ihm ein Gedanke gekommen, die schleichende Erkenntnis, dass … Nombeko … gewissermaßen genauso wenig existierte wie er selbst. Und dass sie in Sachen Atombombe sogar noch tiefer drinsteckte als er. Und sie war im Großen und Ganzen ziemlich … wundervoll.
Und nun dieses Küsschen auf die Wange.
Nummer zwei fasste einen Entschluss. Sie war nicht nur die Frau, die er mehr als alle anderen wollte, sondern auch die Einzige, die für ihn erreichbar war. Wenn er der Sache da keine Chance gab, dann hatte er es nicht besser verdient.
»Tja, Nombeko …«, begann er.
»Ja, lieber Holger?«
Lieber? Es gab also Hoffnung!
»Wenn ich … wenn ich jetzt ein wenig näher an dich heranrücken würde …«
»Ja?«
»Kommt dann die Schere zum Einsatz?«
Nombeko meinte, die Schere liege in einer Küchenschublade, und sie finde, da liege sie ganz gut. Sie hatte sich schon lange gewünscht, sagte sie, dass Holger genau das endlich mal machte. Also, näher heranrücken. Nicht mehr lange, und sie waren alle beide achtundzwanzig Jahre alt, und Nombeko gestand, dass sie noch nie mit einem Mann zusammen gewesen war. In Soweto war sie ein Kind gewesen, danach elf Jahre lang eingesperrt und dabei fast ausschließlich von widerlichen Männern einer verbotenen Rasse umgeben. Aber jetzt traf es sich ja so glücklich, dass hier nicht verboten war, was in Südafrika verboten gewesen wäre. Und Nombeko fühlte schon länger, dass Holger das genaue Gegenteil seines Bruders war. Wenn er also wollte … dann wollte sie auch.
Holger verschlug es fast den Atem. Dass er das genaue Gegenteil seines Bruders war, war das Schönste, was je ein Mensch zu ihm gesagt hatte. Er gab zu, dass er auch überhaupt keine Erfahrung … damit hatte. Irgendwie hatte es sich nie … also, wegen dieser Geschichte mit Papa … meinte Nombeko wirklich, dass …
»Kannst du nicht einfach den Mund halten und zu mir herrücken?«, fragte Nombeko.
Natürlich passt jemand, der gar nicht existiert, am besten zu jemand, der auch nicht existiert. Nombeko war ja schon nach ein paar Tagen aus dem Flüchtlingsheim in Upplands Väsby geflohen und seither wie vom Erdboden verschluckt, so dass sie seit einem Jahr als vermisst geführt wurde. Eine Leerstelle im schwedischen Einwohnermeldeamt sozusagen. Für eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung hatte die Zeit nicht gereicht.
Holger wiederum hatte immer noch nichts wegen seiner anhaltenden Nichtexistenz unternommen. Die Sache war einfach so umständlich. Und noch mehr im Hinblick auf Nombeko. Wenn die Behörden anfingen, Nachforschungen zu seiner Person anzustellen, mit dem Ziel, seine Erzählung zu bestätigen, konnte ja alles Mögliche passieren. Zum Beispiel auch, dass sie Nombeko und die Bombe fanden. In beiden Fällen riskierte er sein Familienglück, bevor es so richtig beginnen konnte.
Vor diesem Hintergrund mag es widersprüchlich erscheinen, dass sich Holger und Nombeko ziemlich früh über die Kinderfrage einig waren: Wenn sie ein Kind bekämen, dann bekämen sie eben eines. Und wenn nicht, dann wünschten sie sich eines.
Nombeko hätte gern eine Tochter gehabt, die nicht schon als Fünfjährige anfangen musste, Scheiße zu schleppen, und deren Mutter nicht von Lösungsmitteln lebte, bis sie irgendwann nicht mehr lebte. Holger war egal,
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