Die Anatomie des Todes
stehen. Sie war die einzige Frau vor Ort und spürte bereits die Blicke, die sie auf sich zog. Sie wandte sich dem Fluss zu. Es war nicht sofort zu erkennen, doch zwischen den Steinen zeigten sich die Konturen eines verdrehten Arms, der anklagend in den Himmel zu deuten schien. Jetzt konnte sie auch den oberen Teil des Körpers ausmachen, der in der Strömung auf und ab wogte.
Maja schaute zu Blindheim hinüber, in dessen Mundwinkel immer noch die Viprati steckte.
Ohne von den beiden Uniformierten beachtet zu werden,
ging sie dem Kommissar vorsichtig entgegen. Sie roch den Rauch seiner Pfeife, bevor sie ihn erreichte.
»Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte?«
Die Frage veranlasste ihn, sich umzudrehen und Maja anzuschauen, ehe er dem Beamten, der etwas entfernt stand, einen entnervten Blick zuwarf. Blindheim nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete ihre Verbände.
»Wie geht es Ihren Händen?«
»Besser. Ich dachte, Sie würden sich mehr Sorgen um meine mentale Verfassung machen.«
Blindheim antwortete mit einem leisen Grunzen, ehe er sich seine Pfeife wieder in den Mundwinkel steckte.
»Glauben Sie wirklich, es ist Rolf Vikse, dessen Hand gen Himmel zeigt?«
»Wir werden sehen«, murmelte er.
Plötzlich wurden sie von einem dröhnenden Motor unterbrochen. Maja drehte sich um und sah ein rotes Feuerwehrauto, das sich ihnen langsam entgegenschob. Es füllte die gesamte Breite des Kieswegs und noch mehr aus. Die Ãste der Nordmanntannen kratzten an seinen Flanken. Das Rettungsfahrzeug wirkte in der freien Natur schlichtweg monumental, wie ein groÃes metallenes Tier, das sich verlaufen hatte. Die Beamten scheuchten die Sportangler weg, die rasch in ihre Wagen stiegen, um dem Einsatzfahrzeug Platz zu machen.
Stig ging zu Maja. Er hatte bereits einige der Sportangler interviewt, die die Leiche entdeckt hatten.
»Was haben sie gesagt?«
»Die beiden da drüben«, er streckte den Arm aus, »haben die Leiche heute Morgen so gegen halb acht gefunden. Sie sagten, die könne durchaus schon eine Weile dort gelegen haben, ohne dass es jemand bemerkt hat.«
»Wissen Sie, wo das Unglück passiert ist?«
Stig schüttelte den Kopf.
»Sie tippen auf eine der ersten Fangzonen. Die Strömung hat ihn bis hierher getrieben.«
»Und wer ist der Tote?«
»Das können sie nicht sagen, solange nicht die nationalen Anglerklubs überprüft wurden. Vielleicht ein Mondfischer.«
»Ein was?«
»Jemand ohne Angelschein.«
»Und das reicht für den Verdacht aus, dass es sich um Vikse handelt?«, fragte sie verwundert.
Stig lächelte. »Einmal Verbrecher ⦠aber ich glaube eher, dass es irgendein Tourist ist.«
»Einer von Solstrøms Mietern?«
»Vielleicht.«
In diesem Moment fuhr der Einsatzwagen lärmend seine TeleskopfüÃe aus. Die Feuerwehrleute hatten Platten darunter gelegt, damit sie nicht in der weichen Erde versanken.
»Wie wollen sie das hinkriegen?«, fragte Maja und machte eine seitliche Kopfbewegung in Richtung der Leiter, die langsam ausgefahren wurde.
»Sie werden die Drehleiter als eine Art Kran benutzen.« Stig erzählte, dass es unmöglich gewesen sei, die Leiche von Schwimmern bergen zu lassen. Es war sogar weiter flussaufwärts ein Schlauchboot ausgesetzt worden, in der Hoffnung, an der richtigen Stelle vorbeizukommen, doch ohne Erfolg.
»Aber wie ist die Leiche denn dahin gekommen?«, wollte sie wissen.
Stig zuckte die Schultern.
Sie blickte zu einem der Rettungsschwimmer hinüber, der sich trotz der Kälte seinen Neoprenanzug bis zur Taille heruntergezogen hatte und eine Zigarette rauchte. Mit seinem buschigen Schnurrbart und den tätowierten Oberarmen erinnerte
er an einen alten Zirkusartisten. Einer von denen, die Feuer schluckten und schwere Gewichte stemmten.
»Ib!«, rief ein Mann, der sich auf dem Wagen befand, worauf Ib seine Zigarette wegwarf. Er zerrte sich den Neoprenanzug wieder über die Schultern und zog den ReiÃverschluss zu. Als er an Maja vorbeiging, lächelte er sie mit blitzenden Augen an. Sie konnte nicht anderes als zurückzulächeln.
»Starker Typ«, bemerkte Stig grinsend.
Der Rettungsschwimmer kletterte in den Korb, in dem sich bereits ein Feuerwehrmann befand. Der bewegte einen Joystick, worauf die Leiter mitsamt des Korbs ausgefahren wurde.
Alle schauten gebannt zu. Die Szenerie kam
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