Die Anatomie des Todes
zu erreichen, musste ihn jemand mitgenommen haben. Maja blickte sich um. Abgesehen von den Anglern, die sich früh am Morgen zu den Fangzonen aufmachten, war dies eine abgeschiedene Gegend. So abgeschieden, dass man sicher auch ungestört über Geschäftliches reden konnte. War der Fahrer auch sein Mörder gewesen? Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie rasch man in den Abgrund gestoÃen werden konnte.
Hinter ihr gellte ein heller Pfiff. Als sie sich umdrehte, sah sie Stig auf dem Kiesweg, der ihr zuwinkte.
Genau dort haben sie ihn erschlagen, ging ihr durch den Kopf, als sie zurückwinkte und die LandstraÃe überquerte. Da unten, hinter dem parkenden Polizeiauto, zwischen den hohen Bäumen, die vor neugierigen Blicken schützten. Sie konnte fast ihre Gegenwart spüren, ihre huschenden Schatten im Unterholz erkennen. Stig trug die Kameratasche. Von Gustav war nichts zu sehen. Stig näherte sich mit festen Schritten, als wolle er ihr etwas Wichtiges erzählen. »Du errätst nie, wen sie aus dem Fluss gezogen haben.«
»Ãivind Munkejord«, entgegnete Maja.
Stig schaute sie verblüfft an.
»Woher weiÃt du â¦?«
Maja wandte den Blick ab.
»Weil alle, die etwas mit Jo Lilleengen zu tun hatten, tot sind oder getötet werden sollten.«
Stig stellte die schwere Kameratasche ab.
»Du glaubst also, dass auch dieser Todesfall mit der ganzen Sache zu tun hat?«
Maja nickte.
Stig schien zu zweifeln. »Zumindest darf man auf das Obduktionsergebnis gespannt sein.«
Maja lächelte vage. Sie glaubte inzwischen nicht mehr, dass Joseph Linzâ Untersuchungen ihre Ermittlungen irgendwie voranbringen konnten.
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Sie machten sich auf den Heimweg. Maja konnte Gustav riechen, obwohl sie hinten saÃ. Die lange Tour am Fluss entlang hatte ihn ordentlich ins Schwitzen gebracht. Stig diskutierte am Handy mit seinem Nachrichtenchef darüber, in welcher Form über die neuesten Ereignisse berichtet werden sollte. Da es sich bei dem Toten nicht um Rolf Vikse handelte, war es schwierig, einen richtigen Aufhänger zu finden. In jedem Fall musste betont werden, dass die Polizei rätselte, wie die Leiche an ihren Fundort im Fluss gelangt war.
Da die offizielle Identifizierung noch ausstand, durften sie Munkejords Namen nicht erwähnen, obwohl Blindheim in den Kleidern des Toten ein Portemonnaie mit dessen Führerschein entdeckt hatte. Doch nicht zuletzt wegen der dramatischen Bergung der Leiche gelang es Stig, seinem Chef die Geschichte schmackhaft zu machen.
»Hat ja anscheinend geklappt«, sagte Maja anerkennend, nachdem er aufgelegt hatte.
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Dennoch wurde Stigs Reportage weitaus weniger spektakulär, als man hätte glauben können. Nachdem der Nachrichtenchef die aufsehenerregenden Bilder der schwebenden Leiche zensiert hatte, war nur ein groÃes Feuerwehrauto an einem Fluss zu sehen. In wenigen kurzen Sätzen kam das Unglück zur Sprache, das schon jetzt als tödlicher Unfall eines Sportanglers betrachtet wurde.
Stig schaltete den Fernseher aus. Seine Enttäuschung über
die Verstümmelung seines Materials war so offensichtlich, dass es keinen Grund gab, die Sache weiter zu diskutieren. Stattdessen leerten sie lieber zwei Flaschen Moët & Chandon, die Maja besorgt hatte.
»Bei Siegen hat man Champagner verdient, bei Niederlagen braucht man ihn«, zitierte sie Napoleon.
Nach der zweiten Flasche schlief Stig einfach ein, und Maja musste feststellen, dass er schnarchte, wenn er betrunken war. Maja legte sich zu ihm und breitete eine Decke über sie. In ihrem neuen Leben sollte niemand mehr allein auf dem Sofa schlafen müssen. Sie schluckte zwei Nitrazepam.
Während sie auf die einschläfernde Wirkung der Tabletten wartete, gingen ihr die Ereignisse der letzten Zeit durch den Kopf. Doch ihre Gedanken waren kein sanfter Strom, sondern ein wirres, hitziges Durcheinander, das ihre offenen Fragen nicht im Mindesten beantwortete.
30
Maja kam wie immer absichtlich zu spät, um Miltens Morgenpredigt zu entgehen. Ihre linke Schulter tat nur noch bei abrupten Bewegungen weh, und auch die Wunden an ihren Händen waren nahezu verheilt. Die einzig sichtbaren Spuren des Ãberfalls waren die dünnen, langgezogenen Narben, die quer über beide Handflächen verliefen.
Wäre der chronische Ãrztemangel nicht gewesen, hätte man sich längst von ihr getrennt. Milten hatte sie seit längerer
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