Die Anatomie des Todes
Zeit als instabile Persönlichkeit abgestempelt, eine Einschätzung, die von den jüngsten Vorfällen gestützt wurde.
Linda verplapperte sich beim Mittagessen und bestätigte Majas Befürchtungen. Im Ãrztehaus kursierte das Gerücht, sie habe sich das Leben nehmen wollen, ihr Vorhaben aber im letzten Moment bereut und sei durch einen Zufall gerettet worden.
Maja erklärte ihr, wie die Dinge wirklich zusammenhingen, doch den mitleidigen Blicken zufolge, die ihr Linda für den Rest des Tages zuwarf, hatte Maja sie nicht überzeugen können. Die übrigen Kollegen ignorierten sie vollkommen. Selbst Milten, der sich ansonsten mit psychotherapeutischen Ratschlägen nicht zurückhielt, sagte kein Wort, wenn sie ihm zufällig an der Rezeption über den Weg lief.
Am späten Nachmittag rief Stig an und erzählte, die Polizei habe eine kurze Pressemitteilung herausgegeben. Sie hörte seinem Tonfall an, dass sie keine Ãberraschungen enthielt. Die Polizei bestätigte, dass es sich bei dem Toten im Fluss um Ãivind Munkejord handelte. Er galt nicht als vermisst, weil seine Angehörigen glaubten, er sei verreist. Dem
Obduktionsbericht zufolge war er vor zirka sechs Wochen ertrunken. Da es keine Anzeichen für eine äuÃere Gewalteinwirkung gebe, sei davon auszugehen, dass es sich um einen Unfall beim Angeln gehandelt habe. Die Polizei suche aber noch nach etwaigen Zeugen.
»Und damit werden sie die Sache vermutlich zu den Akten legen«, fügte Stig hinzu.
»Da scheint mir Linz aber etwas voreilig geurteilt zu haben«, sagte Maja.
»Inwiefern?«
»Wie kann er nur behaupten, es gebe keine Anzeichen für äuÃere Gewaltanwendung? Munkejord wurde im Wasser sicher mehrfach gegen die Steine geschleudert und dürfte kaum noch einen heilen Knochen haben.«
»Vielleicht meinte er vorsätzliche Gewaltanwendung«, entgegnete Stig.
Maja lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wie soll man das bei dem Zustand der Leiche denn voneinander unterscheiden?«
Erneut meinte sie die Schneeflocken auf ihrem Handrücken zu spüren. Sie verabschiedete sich von Stig und legte auf. In Gedanken war sie längst woanders, bei ihrer eigenen Flucht auf der Brücke und Munkejords mutmaÃlicher Flucht auf dem Kiesweg. Sie wusste, wie er sich in seinen letzten Sekunden gefühlt hatte. Er spürte einen kräftigen Stoà im Rücken und stürzte im nächsten Moment bei vollem Bewusstsein dem reiÃenden, schäumenden Wasser entgegen, ehe er unrettbar in den Fluten versank. Ihm hatte sich keine Hand entgegengestreckt, um ihn im letzten Moment vor dem Unabänderlichen zu bewahren.
Sie packte ihre Sachen zusammen. Es war spät geworden. AuÃerdem musste sie noch einen Besuch machen, der sich nicht aufschieben lieÃ. Die Polizei hatte etwaige Zeugen schlieÃlich selbst darum gebeten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.
Aber damit wollte sie sich nicht begnügen, sie wollte den Zeugen selbst aufsuchen.
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Maja war in drei Schuhgeschäften gewesen, ehe sie bei Fjell & Sport das fand, wonach sie suchte: die echten, mit einem Qualitätsstempel versehenen Schnürsenkel von Adolf Eisingen, die seit 1924 aus gewachster Baumwolle hergestellt wurden. Genau die Sorte, die dem Zeugen, zu dem sie jetzt unterwegs war, hoffentlich die Zunge lösen würde.
Sie stellte ihren Mercedes vor dem Wohnhaus am Lindevei ab. Die Jalousien bei Munkejord waren immer noch heruntergelassen. Dafür flackerte das bläuliche Licht eines Fernsehers hinter dem Fenster des Nachbarn.
Als sie das Treppenhaus betrat, hörte sie bei Brynjelsen schon den Fernseher laufen. Die Frage war, ob er bei dieser Lautstärke die Klingel hörte. Es war ihr schon früher der Gedanke gekommen, dass Munkejords Nachbar vielleicht der Letzte gewesen war, der ihn lebend gesehen hatte. Der Mann mochte ein wenig senil sein, doch konnte sich hinter seinen wirren Worten ein Körnchen Wahrheit verbergen. Das letzte Mal hatte er ihr von seinen furchtbaren Erlebnissen auf See während des Zweiten Weltkriegs erzählt, die ihn offenbar so traumatisiert hatten, dass er heute Wahnvorstellungen über die Wiederkehr der Nazis hatte. Maja erinnerte sich, dass er von der Gestapo gesprochen hatte.
Sie glaubte zwar nicht an eine neonazistische Verschwörung in Vestland, doch hatte Brynjelsen auch von hohen Militärstiefeln gesprochen. Stiefel von der Sorte, die auch
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