Die Anatomie des Todes
wusste.
»Bitteschön«, entgegnete er.
Sie nickte und ging zu dem kleinen Schrank.
»Ich bin sicher, dass alles in bester Ordnung sein wird.«
Sie öffnete die Tür.
Auf den Regalbrettern stand der gesamte Vorrat von Tjodolv Skarvs Medikamenten in Reih und Glied. Alles war so akkurat angeordnet, dass es sich um das Werk einer besonders peniblen Krankenschwester handeln musste. Für einen kurzen Moment zweifelte Maja an ihrer eigenen Theorie. In einer so exakt geordneten Welt schien auch nur der kleinste Schwindel ausgeschlossen zu sein.
In der hintersten Reihe, verdeckt von anderen Präparaten, befanden sich die kleinen Fläschchen mit der Methadonlösung. Es waren insgesamt vierzehn Fläschchen, die auf einem kleinen Tablett wie Zinnsoldaten nebeneinander standen. Eine kleine Armee, die jederzeit an die Front geschickt werden konnte, um die Schmerzen in Skarvs vom Krebs befallenen Körper zu bekämpfen.
Sie klirrten ein wenig, als Maja das Tablett zu Skarvs Nachttisch balancierte.
»Sehen Sie, es ist alles da!«
Maja nickte schweigend und stellte das Tablett ab. Sie begann sofort, die Etiketten zu untersuchen. Jetzt durfte sie keine Zeit mehr verlieren. Der Wachmann hatte Erik Skarv bestimmt schon alarmiert, und sie wollte lieber nicht daran denken, wen Erik Skarv alarmieren würde.
»Nur ein winziges Detail kann den Schwindel verraten.«
»Welches?«
»Das Datum«, entgegnete sie, während sie ihren Blick rasch über die Etiketten wandern lieÃ. »Es ist praktisch unmöglich, die Etiketten auszutauschen. Glauben Sie mir, ich hab schon alles versucht.«
»Daran zweifle ich nicht im Geringsten.«
Sie ignorierte seine Ironie und kontrollierte weiter die Datumsangaben.
»Wenn wir das älteste Datum gefunden haben, dann wissen wir auch, mit welcher Flasche der Betrug vollzogen wurde.«
Maja bereute ihre Wortwahl, doch angesichts der Tatsache, dass sie dem Beweis nahe war, konnte sie ihren Eifer nicht länger verbergen. Nachdem sie alle vierzehn Etiketten überprüft hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ein Fläschchen in der dritten Reihe.
»Ich glaube, da haben wir den Ãbeltäter.«
Sie hielt das Fläschchen gegen das Licht der Nachttischlampe und drehte es zwischen den Fingern.
»Knapp zwei Wochen nach dem aufgedruckten Datum ist Jo Lilleengen gestorben.«
Sie untersuchte die Gummimembran, die sich auf der Flasche befand und ihren Verschluss bildete. Der kleine Riss in der Gummihaut war nur für ein geübtes Auge zu erkennen. »Die Versiegelung wurde beschädigt, vermutlich von einer Injektionsspritze, die das Methadon herausgezogen und durch ein anderes Präparat, wahrscheinlich eine Kochsalzlösung, ersetzt hat.«
Skarv sah sie schweigend an.
»Eine Laboruntersuchung wird das bestätigen können.«
Sie warf Skarv einen bedauernden Blick zu. »Ich muss das Fläschchen mitnehmen, das verstehen Sie doch.«
Er wandte den Blick ab.
»Tut mir wirklich leid.«
»Mir auch.« Er atmete schwer. »Vor allem tut es mir leid, dass ich Söhne anstelle von Töchtern bekommen habe. Söhne werden allgemein überschätzt.«
Maja zuckte die Schultern.
»Ihr Frauen seid viel skrupelloser.«
»Ach, wirklich?«
»Aber natürlich. Ihr seid mit einem angeborenen Beschützerdrang ausgestattet, der es euch ermöglicht, viel gröÃere Grausamkeiten zu begehen als Männer. In Verbindung mit eurer Fähigkeit, stets euren Willen durchzusetzen, ist das ebenso simpel wie bewundernswert.«
»Ich habe Grausamkeit und Willensstärke nie als besonders weibliche Eigenschaften betrachtet.« Sie steckte das Fläschchen in ihre Jackentasche.
»Den eigenen Willen durchzusetzen, ohne an die Folgen zu denken«, präzisierte Skarv. »So wie Sie es bei Ihren Nachforschungen getan haben.«
Sie hatte keine Lust, mit dem Alten eine lange Diskussion zu führen. Sie musste zusehen, dass sie sich aus dem Staub machte, solange noch Zeit dazu war.
»Männer geben sich mit viel weniger zufrieden«, fuhr Skarv fort. »Ganz gleich, ob sie jemanden kaufen oder verprügeln. Lassen Sie sich das von einem alten Mann gesagt sein.«
»Ich werde es beherzigen«, entgegnete Maja.
»Ich wünschte, ich hätte eine Tochter wie Sie.«
Sie lächelte verhalten. »Ich glaube, das sollten Sie sich lieber nicht
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