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Die Anatomie des Todes

Die Anatomie des Todes

Titel: Die Anatomie des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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schließlich gelang es ihr, sie herunterzureißen und in das Büro zu klettern. An Eleganz ließ ihr Einbruch möglicherweise zu wünschen übrig, doch mit äußerster Vorsicht vermied sie es, sich an den scharfen Scherben zu schneiden, die überall herumlagen.
    Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das Dunkel. Abgesehen von einem Familienfoto, das auf dem Schreibtisch stand, sah das Büro unverändert aus. Der neue Doktor, der von seiner Frau und drei herausgeputzten kleinen Töchtern umgeben war, sah sanft und gutmütig aus. Mit ihm als Arzt war der Stadt zweifellos besser gedient. Sie legte das Foto vorsichtig auf den Drehstuhl und kletterte auf den Schreibtisch. Vorsichtig hob sie eine der Deckenplatten an, schob sie ein Stück zur Seite und streckte ihre Hand durch den Spalt. Für einen Moment tastete sie panisch nach dem Schuhkarton, ehe sie ihn mit den Fingern berührte.
    Â 
    Sie hob den Deckel erst ab, als sie wieder im Auto saß. Alles war da, die Fotos von Jo, seine Patientenakte und sein Obduktionsbericht. Darunter lag derjenige von Kvam. Selbst die Familie Skarv war in Gestalt von Tjodolvs Patientenakte in ihrem bescheidenen Karton vertreten. Alles zusammen wichtige Unterlagen für ihre Aufklärung des Mordes an Jo Lilleengen.
    Die Antwort hatte die ganze Zeit offen zutage gelegen, sie hatte sie nur nicht erkennen können. Wäre sie eine bessere
Ärztin gewesen, hätte sie die Lösung sofort gefunden und sich viele Fragen und Umwege erspart. Dass auch niemand anderes auf die Lösung gekommen war – weder Blindheim noch Linz –, war kein Trost. Sie drehte den Schuhkarton um und leerte den gesamten Inhalt auf dem Beifahrersitz. Sie nahm Jos Obduktionsbericht zur Hand und blätterte bis zu der Seite, auf der die Analyse des Magen-Darm-Inhalts aufgeführt war. Ohne den zweifelhaften Begrüßungscocktail im Foyer wäre sie nie auf diese Spur gestoßen, die sich in den Untersuchungsergebnissen verbarg. Es war allein der üble Geschmack des Cocktails gewesen, der einen Rezeptor in ihrer schlummernden Hirnrinde geweckt hatte. Der eine verschlossene Tür ihrer Erinnerung aufgestoßen hatte, hinter der sich die Auflistung von Jos Mageninhalt befand. Es war eine einzelne Zeile dieser Auflistung, die ihr während des Konzerts plötzlich ins Bewusstsein gedrungen war. Den Abzählvers ihres Großvaters zum Leben erweckt hatte.
    Es war der Geschmack nach Bitterorange, der nicht nur den Cointreau im Aperitif verriet, sondern auch den Mandarinenschnaps kennzeichnete, dessen Spuren man in Jos Magendarmtrakt nachgewiesen hatte. Es war dieser Geschmack, der Jo indirekt getötet hatte. Der zum Plan seiner Mörder gehörte. Der es möglich machte, das tödliche Gift in seinen Körper zu schmuggeln, weil das bittere Methadon so nicht herauszuschmecken war. Jo war in kleinen Dosen vergiftet worden. Schritt für Schritt, Glas für Glas. Der Plan war ebenso einfach wie genial. Ebenso genial wie zynisch.
    Als Jo schließlich die berauschende Wirkung bemerkte, war es zu spät. Sein entgifteter Körper musste zwangsläufig kollabieren. Und es hätte eine weitaus geringere Menge ausgereicht als diejenige, die man im Labor nachgewiesen hatte. Die Täter wollten auf Nummer sicher gehen. Die Menge ließ zudem darauf schließen, dass sie glaubten, Jo sei noch abhängig. Dass es mehrere Mitschuldige gegeben hatte,
konnte sie nur vermuten, denn ein solches Vorhaben war mit mehreren Leuten fraglos leichter durchzuführen. Verschiedene Personen, die ihn ablenken konnten. Verschiedene Personen, um den notwendigen Druck zu erhöhen, ein Glas nach dem anderen zu trinken. Vielleicht war Øivind Munkejord trotz allem nicht der gute Freund gewesen, für den sie ihn gehalten hatte. Vielleicht hatte er seine Tat später bereut. Aber das alles waren Spekulationen, die sie jetzt nicht weiterbrachten. Wichtiger war es, diese neuen Erkenntnisse ans Tageslicht zu bringen. Diejenigen damit zu konfrontieren, die Zugang zu solchen Mengen Methadon hatten. Natürlich konnte man sich den Stoff auch auf der Straße beschaffen, bei den Junkies der Stadt, aber das schien ihr eher unwahrscheinlich. Dazu war der Plan zu durchdacht. Die Schuldigen wollten sicher nicht auffallen, zumal der Stoff sich ja stets in unmittelbarer Reichweite befand. Sie wendete den Mercedes und fuhr durch die Stadt. Ein schicksalsschwangerer Besuch

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