Die Anatomie des Todes
von Eigil Kvam in der Hand hielt. Die Nummern kennzeichneten die Körperstellen, die Verletzungen aufwiesen. Das Kreuz markierte die tödliche Wunde. Sie schob die Bögen in den Umschlag zurück und steckte sich diesen in die Tasche ihres Kittels.
Der Appetit war ihr vergangen. Es bestand eigentlich kein Grund mehr, nach unten in die Kantine zu gehen. Nur derjenige, Petra Jakola mit diesem Umschlag zu konfrontieren.
Es waren mehrere Tage vergangen, seit sie ihr endlich eine freundliche, aber entschiedene Antwort gemailt hatte. Petras Entschuldigung hatte sie akzeptiert, es aber abgelehnt, sich auÃerhalb der Klinik mit ihr zu treffen. Der braune Umschlag war offenbar eine Reaktion auf ihre Mail, doch Petras hartnäckiger Versuch, bei Maja unangenehme Erinnerungen zu wecken, die mit Kvams Tod zusammenhingen, war eher kindisch als furchteinflöÃend. Selbst Jans alberne Reaktionen relativierten sich ein wenig. Er hatte sich damit begnügt, all ihre Kleider aus dem Fenster zu werfen, hatte dies aber nach wenigen Stunden bereut und Majas Garderobe persönlich wieder hereingeholt.
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Maja ging quer über den Hof auf die Pathologie zu. Sie hatte kein Interesse daran, Petra in aller Ãffentlichkeit zur Rede zu stellen. Dafür war die Sache zu ernst und konnte womöglich ihre Kündigung nach sich ziehen. Dennoch war Maja offenbar gezwungen, ihrer Mail ein wenig Nachdruck zu verleihen.
Sie schloss die Eingangstür auf. Obwohl es mitten am Tag war, lagen die Flure verlassen da. Nur das nervöse Brummen
der Neonröhren war zu hören. Sie drückte die Klinke zum Labor hinunter, doch die Tür war verschlossen.
Obwohl sie Gefahr lief, Joseph Linz zu begegnen, fühlte sie sich genötigt, einen Blick in den Obduktionssaal zu werfen. Das helle Nachmittagslicht fiel durch die Milchglasscheiben und lieà die stählernen Kühlschränke am Ende des Raumes aufleuchten. Auf dem Obduktionstisch waren unter einem weiÃen Tuch die Umrisse eines Leichnams zu erkennen. Vielleicht war es Eigil Kvam, der dort lag und darauf wartete, dass Linz sich seine Trophäe abholte.
Eine Stimme durchschnitt die Stille:
»Was tun Sie hier?«
Maja fuhr herum. Joseph Linz stand nur wenige Zentimeter von ihr entfernt.
»Ich ⦠mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«
Sie versuchte, den Umschlag diskret in ihrer Tasche verschwinden zu lassen, doch er schaute halb heraus. »Ich dachte, hier wäre niemand.«
»Wen suchen Sie?«
»Petra ⦠Jakola.«
»Meine Assistentin?« Linz runzelte misstrauisch die Stirn.
»Ja, wir ⦠gehen zusammen ins Fitnessstudio.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
Er schaute sie an wie ein Leichenbestatter, der seinen Klienten in Augenschein nahm.
»Die hat heute frei.«
»Dann werde ichâs bei ihr zu Hause probieren«, entgegnete Maja und schlängelte sich an Linz vorbei.
»Hören Sie!«
Maja blieb stehen.
»Ja?«, entgegnete sie unsicher und spürte, wie der Obduktionsbericht in ihrer Tasche brannte.
Joseph Linz zeigte mit dem Finger auf sie. »Dieses ganze
Fitnesszeug scheint Ihnen mehr geholfen zu haben als ihr«, bemerkte er mit frostigem Lächeln.
Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch reichte es nur zu einem EntblöÃen ihrer Vorderzähne.
»Danke«, sagte Maja und hoffte inständig, dass Gott eines Tages einen sehr schweren Gegenstand vom Himmel fallen und Linz treffen lassen würde â warum nicht einen toten Kronenhirschen?
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Sie wählte Petras Festnetznummer, aber ohne Erfolg. Seit mehreren Tagen war sie auch nicht mehr im Fitnessstudio gewesen. Maja begann sich zu fragen, ob sie die ganze Situation vielleicht missverstanden hatte, ob es wirklich Petra gewesen war, die den Obduktionsbericht in ihr Fach gelegt hatte. Trotz ihres ungeschickten Annäherungsversuchs bei ihr zu Hause konnte dies ein unbeholfener Versuch sein, Maja ihre Mithilfe anzubieten. Sich bei ihr einzuschmeicheln, wie sie es bereits mit Jo Lilleengens Obduktionsbericht getan hatte.
Kvams Obduktionsbericht hingegen verschaffte ihr keine neuen Erkenntnisse. Stattdessen musste sie an das Drehbuch eines Krimis denken. Die Zeichnung sah aus wie die detaillierte Skizze zu einer Mordszene, die genau festlegte, wo und auf welche Weise das Opfer verletzt werden sollte. Als hätte der Zeichner nicht nur über die Anatomie des Mordes, sondern auch über den
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