Die Anatomie des Todes
standen, war ein dunkler Geländewagen abgebildet.
»Es war ein Lincoln Navigator, Baujahr 2004, den ich gesehen habe!«, rief sie ins Telefon. »Und jetzt sagen Sie mir, welcher Junkie genug Geld hat, ein Auto über vierhunderttausend Kronen zu fahren!«
Maja unterbrach die Verbindung, ehe Blindheim antworten konnte.
Erst jetzt lieà der schmerzende, tränenerstickte Druck in den Nebenhöhlen nach. Nun konnte sie sich endlich beruhigen.
Die untergehende Sonne tauchte einen Möwenschwarm, der sich über dem Fjord formiert hatte, in goldenes Licht. Maja fuhr langsam an einem Mülleimer vorbei und warf die Automagazine aus dem offenen Fenster. Niemand sollte es wagen, ihr zur Heimreise zu raten.
16
Der Gedanke war beunruhigend. Wer sollte sie bei der Polizei denunziert haben? Entweder handelte es sich nur um ein loses Gerücht, oder es gab wirklich jemanden, der ihren Medikamentenverbrauch kontrollierte. In diesem Fall hatte sie entweder Edel Raaholdt oder Milten im Verdacht. Jedenfalls kam es nicht mehr infrage, ihre Arzttasche als gestohlen zu melden. Diesen Plan konnte sie erst in der nächsten Stadt umsetzen.
Maja trottete erschöpft den schmalen Flur zwischen dem Pavillon der Notaufnahme und dem Erdgeschoss des Krankenhauses entlang. Ihr Magen beschwerte sich lautstark darüber, dass er immer noch kein Frühstück bekommen hatte. Der Polarwind hatte einmal mehr für spiegelglatte StraÃen und Ãberstunden in der Notaufnahme gesorgt. Sie verfluchte sich, dass sie sich nicht mit Ritalin gewappnet hatte, bevor sie zur Arbeit erschien, doch Blindheims kleine Ermahnung sorgte anscheinend für diese zwischenzeitliche Abstinenz, die sie umgehend wieder zu beenden gedachte.
Ganz gleich, was er oder andere von ihrem Medikamentenkonsum hielten, so war sie nicht der Meinung, dass irgendjemand das Recht hatte, ihr einen Missbrauch zu unterstellen. Natürlich war es ungewöhnlich, dass eine Ãrztin so viel einnahm, doch führte sie auch ein ungewöhnliches Leben mit einer ungewöhnlichen Arbeitsbelastung. Von ihr wurde verlangt, notfalls achtundvierzig Stunden am Stück zu arbeiten, und erst wenn sie irgendwann nach Hause kam, durfte sie sich ein wenig ausruhen. Sollte sie sich ein wenig ausruhen, damit sie auch bei ihrer nächsten und übernächsten
Schicht voll belastbar war. Alle Mittel, die sie nahm, dienten diesem Zweck. Sie war ihrer Zeit bloà voraus. In zehn Jahren würden sich alle mit smarten Drogen vollpumpen, um beruflich voranzukommen. Leistungsfördernde Mittel würden nicht mehr allein den Sportlern vorbehalten sein, sondern sich im Namen der Effektivität ihren Weg durch die Büros bahnen.
Maja stieg in den Lift und drückte auf den Knopf für den vierten Stock. Sie wollte vor dem Frühstück noch nachschauen, ob irgendwelche Hausmitteilungen in ihrem Fach lagen und wie ihr Dienstplan für die nächsten Tage aussah. In der Regel wurde sie für die Spät- und Nachtschichten eingeteilt, die niemand sonst übernehmen wollte. Was sollte sie abends auch zu Hause? Sich vor den Fernseher setzen und Die Farm anschauen, so wie Jo und seine Mutter es getan hatten?
Maja blätterte rasch die Papiere durch, die in ihrem Fach lagen. AuÃer ihrem Lohnzettel fand sie die Ankündigung einer Brandschutzübung sowie eine Erinnerung an das Personal, dass auf den Toiletten nicht geraucht werden durfte. Der Dienstplan für die nächste Woche war keine Ãberraschung. Maja & Ritalin hatten Nachtwache.
Sie hatte keine Lust, ihre Post mitzunehmen, und wollte sie gerade in ihr Fach zurücklegen, als sie einen braunen A5-Umschlag entdeckte, der ganz nach hinten gerutscht war und sich die Wand hinaufgeschoben hatte. Sie musste ihren Arm ganz hineinstecken, um ihn zu erreichen. Er sah wie einer der Umschläge aus, die zwischen den Abteilungen hin und her gingen und die Patientenmitteilungen enthielten. Maja öffnete ihn vorsichtig und zog drei zusammengefaltete Bögen heraus. Auf dem ersten war eine gezeichnete Figur zu erkennen, die einen nackten Mann darstellen sollte. Der Körper war an verschiedenen Stellen mit kleinen Zahlen gekennzeichnet, die meisten davon befanden sich an Gesicht,
Brust, Bauch, den Unterarmen und Händen. Insgesamt waren es zwölf Ziffern sowie ein kleines Kreuz, mit dem die Milz markiert war. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als ihr klar wurde, dass sie den Obduktionsbericht
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