Die Anatomie des Todes
herauszuziehen. Beim Anblick des kleinen Buches mit dem abgewetzten Ledereinband lächelte er zufrieden.
»Die Aufzeichnungen des Gefängniswärters Baldajew aus dem Kresty-Gefängnis in Leningrad. Ich glaube, hier müssen wir suchen«, sagte Leif und schlug ehrfürchtig die erste Seite auf.
Er berichtete, dass der ehemalige Gefängniswärter Danzig Baldajew innerhalb der Gefängnismauern eine phantastische ethnologische Arbeit geleistet habe. Unter anderem habe er während seiner lebenslangen Anstellung die Tätowierungen der Insassen katalogisiert. Leif öffnete ein paar Seiten, die nachgezeichnete Tätowierungen zeigten, die sich in keiner Weise mit denjenigen von pInk Worlds vergleichen lieÃen. Dazu waren sie zu dilettantisch, und es wunderte Maja, dass überhaupt jemand bereit war, seinen Körper von so einem Geschmiere verunstalten zu lassen. Das Beunruhigende war jedoch, dass die Art der Tätowierungen derjenigen entsprach, die sie auf dem Handrücken gesehen hatte.
»Ja, so in etwa ist sie gewesen«, sagte Maja. »Jedenfalls war sie genauso hässlich.«
Leif gab ihr recht, dass die Tätowierungen nicht gerade schön waren, doch um Schönheit ginge es auch nicht, fügte er hinzu. Vielmehr dienten sie den Gefangenen als Geheimsprache, als Code, mit dessen Hilfe sie vertrauliche und lebenswichtige Botschaften austauschten. An der Tätowierung konnte ein Mitgefangener ablesen, wer man war, wie lange man schon gesessen hatte. Sogar über die berufliche Tätigkeit gab sie Auskunft.
»Wie das?«, fragte Maja.
Leif blätterte ein paar Seiten zurück und zeigte ihr das verunstaltete Motiv eines Tigers.
»Raubkatzen deuten immer darauf hin, dass es sich um einen Dieb handelt. Und je gröÃer die Raubkatze, desto weiter oben in der Hierarchie befindet sich ihr Träger.«
Leif blätterte um. Auf der nächsten Seite waren die Umrisse
einer orthodoxen Kirche zu erkennen. Er zeigte auf die Kuppeltürme und sagte:
»Die Anzahl der Türme verrät, wie oft man schon im Knast war. Je mehr Türme, desto mehr Respekt.«
Er blätterte weiter, während er die einzelnen Symbole erklärte:
»Würfel stehen für Falschspieler, Piraten für Gewalttäter. Spinnen und Spinnennetze für Drogendealer.«
Selbst politische Botschaften von Systemkritikern waren zu sehen. Darunter gehörnte Leninporträts oder ein Abbild Boris Jelzins als Totenschädel mit einer Flasche Wodka in der Hand. Im GroÃen und Ganzen war es Baldajew gelungen, die Bedeutung der einzelnen Symbole zu entschlüsseln sowie den geheimen Verhaltenskodex und die Hierarchie der Gefangenen zu erklären.
»Aber konnte man sich nicht einfach ein Tattoo stechen lassen, das in jedem Fall Respekt einflöÃte?«, fragte Maja.
Leif nickte. »Bei fünfundzwanzig Millionen Gefangenen ist es bestimmt vielen gelungen, ihr Renommee ein wenig aufzupeppen, aber â¦Â«
Er schaute sie ernst an. »Wenn man erwischt wurde, war die Strafe hart.«
»Wie hart?«, wollte Rebekka wissen.
»Tja, manchen wurde die Haut abgezogen, meine Liebe.«
Leif und Rebekka tauschten sehr private Blicke.
Maja fragte, ob nicht irgendwo auch das Motiv verzeichnet wäre, das sie auf dem Handrücken gesehen hatte. Leif nickte und blätterte ganz nach hinten.
»War es vielleicht das hier?«
Er legte das aufgeschlagene Buch vor ihr auf den Tisch. Sie beugte sich vor und spürte plötzlich, wie ihr der Schweià ausbrach. Da war er. Der fünfeckige Stern, der von einem Kreis umgeben war. Die Tinte war dick und unbeholfen aufgetragen worden.
»Das ⦠das ist es«, sagte Maja. »Ich bin ganz sicher. Wie konntest du wissen, was ich meinte?«
Leif zeigte auf den Stern und sagte: »Ein DrudenfuÃ, besser bekannt als Pentagramm, ist das Symbol der Mörder. Sozusagen der Adel der Gefängnisse.«
»Dann läuft hier also ein russischer Gangster herum«, war Rebekkas einziger Kommentar.
Maja schaute nervös von Rebekka zu Leif, der die Bemerkung seiner Frau bestätigte: »Sieht ganz so aus. Baust du mir noch âne Tüte?«
Maja lieà sich zurücksinken. Ihr brummte der Kopf. Die Konsequenzen all dessen, was sie soeben gehört hatte, konnte sie noch nicht überblicken.
»Kannst von Glück sagen, dass er dich noch nicht kaltgemacht hat.«
»Leif!«, rief
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