Die Anatomie des Todes
verabredete er jetzt einen Treffpunkt mit seinem jüngeren Bruder. Sie redeten miteinander, wie Brüder das eben tun, in einer ununterbrochenen Folge harter, kurzer Bemerkungen â wie zwei Boxer, die sich gegenseitig mit ihren Schlägen traktieren.
»Jaja! Okay! In fünf Minuten! Bis gleich! Tschüss!«
Stig klappte lässig sein Handy zu und lieà es wieder in seine Manteltasche gleiten.
»Hast du Geschwister«?«, fragte er.
»Nein, ich bin Einzelkind.«
»Das wünsche ich mir auch manchmal. Wir müssen da vorn durch das Tor fahren.«
Stig zeigte auf die Werft, die vor ihnen lag.
»Was meinst du, wie viele Russen hier arbeiten?«, fragte sie.
»Du meinst wohl tätowierte Russen«, entgegnete er lächelnd.
Beim Toreingang blieben sie stehen. Maja kurbelte die Scheibe herunter und lächelte dem Pförtner zu, der mürrisch in seinem Glaskasten saÃ. Stig lehnte sich über Maja hinweg, zeigte dem Mann seinen Presseausweis und sagte, sie seien mit seinem Bruder, Peik Norland, verabredet. Ob es Stigs Presseausweis oder der Name des Bruders war, der ihnen Einlass verschaffte, war nicht zu entscheiden. Jedenfalls hob sich der Schlagbaum, während der Pförtner Maja ermahnte, einen der markierten Gästeparkplätze zu benutzen.
Neben der groÃen Montagehalle lagen die roten Baracken, in denen die SchweiÃer ausgebildet wurden. Stig erzählte, dass sein Bruder für die Einarbeitung und Fortbildung neuer SchweiÃer verantwortlich war, wenn er nicht selbst als Polier in der Montagehalle arbeitete. »Ãber Legierungen weià der Mann einfach alles«, sagte Stig, der sich schon wieder sein Handy ans Ohr hielt. »Wo zum Teufel steckst du, Kleiner? Wir frieren uns hier den Arsch ab!«, rief er ins Telefon und warf die Autotür hinter sich zu.
Drei Minuten später kam Stigs Bruder um die Ecke. Ihn »Kleiner« zu nennen, war im Grunde ein Witz, denn Peik war nicht nur gröÃer, sondern auch um einiges kräftiger gebaut als Stig.
»Das ist Peik, mein kleiner Bruder«, stellte Stig ihn
vor und haute ihm kräftig auf den Rücken. »Und das ist Maja.«
Peik gab ihr schüchtern die Hand. Er hatte dasselbe Funkeln in den Augen wie Stig.
»Ihr müsst mitkommen in die Montagehalle. Ich hab heute tierisch viel zu tun.«
»Gibtâs heute etwa Freibier?«, mutmaÃte Stig.
Peik drückte beiden einen Schutzhelm in die Hand, den sie aufsetzen sollten.
»Wenn wir bis Ende des Jahres mit unserer Hilde nicht fertig sind, muss das Unternehmen Strafe zahlen, und wenn das Unternehmen Strafe zahlt, gibtâs Entlassungen, so einfach ist das.«
Sie hefteten sich an seine Fersen. Maja musste mit einer Hand ihren Helm festhalten, der ihr ständig vom Kopf zu rutschen drohte.
»Das ist ja alles sehr interessant, Kleiner, aber eigentlich sind wir nicht gekommen, um uns dein Gejammer anzuhören.«
»Wie viel Geld brauchst du?«
»Wir brauchen Informationen.«
Peik schaute ihn misstrauisch an. »Solange ich nicht auf der Titelseite lande.« Er warf Maja einen kumpelhaften Blick zu.
»Wie dir bekannt sein dürfte, arbeite ich fürs Fernsehen und nicht für eine Zeitung, also gibtâs auch keine Titelseite.«
Peik legte Maja vertraulich den Arm um die Schultern.
»Wenn du wüsstest, in was für einen Scheià der mich schon reingezogen hat.«
»Du tust ja so, als wäre ich das schwarze Schaf der Familie«, beschwerte sich Stig.
»Wir können ja mal Papa fragen«, entgegnete Peik.
»Also eigentlich bin ich es, die ein paar Fragen hat«, schaltete Maja sich ein.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt«, entgegnete Peik herzlich. »Schieà los!«
Doch bevor Maja den Mund aufmachen konnte, hielt er sie an der Schulter fest. Sie standen unmittelbar vor dem riesigen Eingangstor der Montagehalle.
»Das ist also mein Baby!«, sagte er und streckte den Arm aus.
Vor ihnen türmte sich eine nahezu fertig aussehende Ãlplattform namens Hildegun II auf. Ihr Aussehen erinnerte an das Centre Pompidou, mit dem Unterschied, dass dieses monumentale Bauwerk auf acht Beinen ruhte, die viel zu dünn für ihre gewaltige Last zu sein schienen. Es war ein ebenso beeindruckender wie erschreckender Anblick. Die enorme Plattform war von einer Vielzahl von SchweiÃern umgeben, die ihrer funkensprühenden Arbeit nachgingen. Im
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