Die Anatomie des Todes
darauf lieà sie den Motor an und drehte die Heizung auf. Die Scheiben beschlugen sofort. Sie schloss die Augen und lauschte dem dumpfen Brausen des Wasserfalls. Es war ein behaglicher, einlullender Ton, der ihr unter die Haut kroch. Ein urtümliches Geräusch, das entfernt an ein loderndes Feuer erinnerte und eine hypnotische Wirkung entfaltete. Sie starrte das beschlagene Fenster an und meinte dahinter tatsächlich ein Feuer erahnen zu können. Als das Bild schärfer wurde, erkannte sie inmitten der lodernden Flammen einen Sarg. Und mit einem Mal wusste sie auch, um welches Feuer es sich handelte. Sie blickte unmittelbar in das Krematorium des Skansebakken-Krankenhauses.
Maja schlug die Augen auf. Dunkelheit hatte sich über die Rågeklippen gesenkt. Das Feuer war verschwunden. Sie fragte sich, von welchem Sarg sie da phantasiert hatte. Von Lilleengens? Von Kvams? Oder von einem ganz anderen? Dem Sarg eines Menschen, der noch nicht gestorben war?
Höchste Zeit, in die Stadt zurückzukehren.
20
Vielleicht spielen sie das Ãivind Munkejord zu Ehren, dachte Maja, als sie Desperado von den Eagles im Radio hörte und vor Munkejords Haus mit chirurgischer Präzision in eine Parklücke stieÃ. Die geschlossenen Jalousien lieÃen allerdings vermuten, dass er immer noch nicht an Land gekommen war. Dennoch ging sie in den ersten Stock hinauf und klopfte laut an seiner Wohnungstür. Ihre häufigen Besuche bei alten und schwerhörigen Patienten hatten ihre Knöchel gestählt. Sie klopfte erneut, aber nichts geschah. Vielleicht liegt er ja tot in seiner Wohnung, schoss es ihr durch den Kopf. Sie ging in die Hocke und schnupperte am geöffneten Briefschlitz. Von Leichengestank keine Spur, nur dieser abgestandene Muff, der typisch für Wohnungen war, in denen schon ewig niemand gelüftet hatte. Sie rief seinen Namen und lauschte, erhielt jedoch keine Antwort.
Maja spähte durch den Briefschlitz. Auf dem Boden stapelten sich Reklameblätter und ungeöffnete Fensterkuverts. Alles deutete darauf hin, dass Munkejord seine Wohnung seit geraumer Zeit nicht betreten hatte. Doch es wunderte sie, dass sich niemand um seine Post kümmerte.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter der Tür des Nachbarn. Sie konnte sich gerade noch aufrichten, ehe sie sich einen Spalt breit öffnete. Ein älterer Mann mit dicker Brille warf einen prüfenden Blick ins Treppenhaus. Vieles deutete darauf hin, dass er, obwohl es drei Uhr nachmittags war, gerade sein Bett verlassen hatte.
»Haben Sie da gerufen?«, fragte er mit dünner Stimme.
Maja stellte sich vor und griff zu der Notlüge, dass sie Munkejords Hausärztin sei.
»Ist er tot?«
»Warum fragen Sie?«
Der Mann zuckte die Schultern und machte die Tür weiter auf. Erst jetzt sah sie, dass er nur eine mit Kaffeeflecken übersäte Pyjamahose und ein Paar Wollsocken trug.
»Er hat sich schon lange nicht mehr hier blicken lassen.«
»Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?«
Daran konnte sich der Mann nicht erinnern, so sehr er sich noch durch die spärlichen Haare fuhr.
»Ist das länger als einen Monat her?«
Er nickte. »Länger als einen Monat, ja.«
»Vermutlich ist er auf irgendeiner Bohrinsel«, schlug Maja vor.
Der Mann gab ihr sofort Recht: »Ja, auf einer Bohrinsel. Das ist ja sein Beruf.«
Maja lächelte.
Der Alte war offenbar ein bisschen senil. Wenn er vergaÃ, sein Pyjamaoberteil anzuziehen, konnte er auch vergessen haben, wann er seinem Nachbarn zum letzten Mal begegnet war.
»Reden Sie ab und zu miteinander?«
»Aber ja«, antwortete der Mann und rückte mit einem ausgestreckten Finger seine Brille zurecht. »Wir tauschen unsere Erfahrungen aus.«
»Haben Sie auch auf einer Bohrinsel gearbeitet?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war bei der Handelsflotte, bin im Konvoi über den Atlantik gefahren.«
»Das ist sicher schon ein Weilchen her.«
»Ja ⦠die Nazis haben uns unter Beschuss genommen.« Sein finsterer Blick ging in die Ferne. »Vielleicht haben sie ihn erwischt â¦Â«
»Da brauchen wir uns, glaube ich, keine Sorgen zu machen«,
entgegnete sie vorsichtig. »Wahrscheinlich geht er einfach seiner Arbeit nach.«
»Ja, wahrscheinlich. Aber die Gestapo war hier«, teilte er ihr in vertraulichem Ton mit.
»Aha. Aber das ist doch ⦠schon viele Jahre
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