Die andere Haut: Roman (German Edition)
sehe ich eben nach Tom.“ Sie verhält sich kindisch, aber sie kann nicht anders, überspielt alles mit einer künstlichen Nonchalance und ist sich doch sicher, dass Ricardo sie durchschaut.
Als sie das „Sol y suerte“ wieder betritt, nimmt ihr die heiße, verbrauchte Luft fast den Atem. Partyduft steigt ihr in die Nase, Alkohol, Zigarettenrauch, Parfüm, Snacks und Schweiß. Durch das einzige Fenster dringt wenig Frische. Jemand hat „Sexbomb“ von Tom Jones aufgelegt und viele tanzen. In einer Ecke entdeckt Lara Jan, er ist allein, aber seine Augen glänzen und sein Hemd ist schief zugeknöpft. Sie steuert auf ihn zu und lacht. „Na, Casanova, wie geht’s?“ Er lächelt versonnen und sagt lange nichts. Dann greift er plötzlich feierlich nach ihren Händen, und sein Blick wird ganz klar.„Weißt du was“, sagt er,„ich glaube, ich bleibe hier.“ Es dauert eine Weile, bis Lara begreift. Erst denkt sie, er rede nur von dieser Nacht und nickt, „klar, kein Problem“, aber er sieht sie ernst und bestimmt an. „Ich meine, für immer.“
Kapitel 10
Abschied
N och eine Nacht.
Lara liegt neben Ricardo im Bett und starrt auf seinen nackten Rücken. Umklammert ihn. Zwingt ihre Hände zum Nichtstun, obwohl sie nicht genug bekommen kann von ihm. Zwingt sie zwei, drei, fünf Minuten lang, bevor sie ganz von allein wieder zu wandern beginnen, seine Brust entlang, seinen Bauch, seine Schenkel. Er dreht sich um und sieht sie an. Lächelt. Zieht ihren Kopf an seine Brust und zerwühlt ihr Haar. Sie atmet direkt auf seine Haut. Feuchte, salzige, braune Haut. Kurz berührt sie sie mit der Zunge. Wie sie ihn will! Bemüht zufällig fährt sie mit den Fingern über seinen Körper, doch natürlich durchschaut er sie. Er lacht. „Gib mir fünf Minuten, okay?“
Sie schließt die Augen und zählt die Sekunden. Dreht sich auf den Rücken, windet sich vor peitschender Ungeduld, fährt mit der Hand zwischen ihre Schenkel, doch das lässt er nicht zu. Er umklammert ihr Gelenk, und sie will sich wehren, doch dann finden sich seine und ihre Finger, knoten sich ineinander, als wollten sie sich nie wieder lösen. Ein Blick und ein Kuss und dann erneut sie beide, und er in ihr und die Unendlichkeit.
Später im Morgengrauen geht alles plötzlich schnell. Eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss und das Versprechen: „Ich werde immer an dich denken.“ Lara schluckt, weil sie nicht daran glaubt. Er gibt ihr eine CD. „Ich hab dir ein paar Lieder gebrannt.“ Dann zieht er sie an sich mit einer Heftigkeit und Kraft, die sie erschauern lässt. Geht. Lässt sie allein.
Zwar könnte sie noch ein oder zwei Stunden schlafen, doch sie fände ja doch keine Ruhe. Schnell packt sie die restlichen Sachen zusammen, dann verlässt sie die Pension für einen letzten Spaziergang durch die Stadt, die gerade erwacht. Die Luft riecht wie immer nach Staub und Blumen. Um den schneebedeckten Vulkan hinter den Häusern tanzen Wolken. Lara taumelt und stolpert und geht. Bald ist alles wieder beim Alten. Die Uni, Marcel, ihre Freunde, die Familie und das Leben, wie es war. Wie sie selbst war und wieder sein wird, nur dass ihr Lebensdurst nun ein Gesicht hat und einen Namen und dass sie sich hineinstürzen wird, in alles, was noch kommt, bis sie wieder spürt, was sie hier gespürt hat, sich selbst und erlösende Antworten auf nicht gestellte Fragen.
Sie läuft vorbei an den Internet-Cafés und Kneipen, an den Hochhäusern, bunt bemalten Mauern und Palmen, dann die Hauptstraße entlang, ziellos, als ihr ein Bettler entgegenkommt. In ihren Hosentaschen kramt sie schnell nach Geld, doch als der Mann sie erreicht, bittet er sie nicht um ein paar Münzen, sondern holt mit seinem Spazierstock aus und schlägt ihr mit voller Wucht gegen die Wade. Dann setzt er ungerührt seinen Weg fort und lässt sie mit ihrem Schock allein. Als habe der physische Schmerz ein Ventil geöffnet, strömen plötzlich all die Tränen, die vorher keinen Weg gefunden haben. Lara weint und weint, und nichts ist ihr gleichgültiger als all die Menschen, die ihr begegnen und sie kopfschüttelnd anstarren, teils mitleidig, teils verunsichert, teils amüsiert. Der blaue Fleck, der sich an ihrem Bein entwickelt, ist handtellergroß und wird noch lange zu sehen sein. Zu sehen und zu fühlen.
Als wenige Stunden später ihr Flugzeug abhebt, sich die Häuser der Stadt mehr und mehr entfernen, kommen ihr erneut die Tränen. „Enamorada?“, fragt die alte Dame neben ihr,
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