Die andere Seite des Glücks
und obgleich er einwilligte, gewährte er mir nur zwei Tage Zeit.
Doch so lange wartete ich nicht. Ich gab ihnen je ein Eis am Stiel, das wir zusammen gemacht hatten – wobei Zach ziemlich viel Zitronensaft auf dem Küchenboden verschüttet hatte –, und ging mit ihnen zur hinteren Veranda. Dort setzten sie sich auf den Rand, und ich zwängte mich dazwischen. »Es ist heute etwas passiert, das ich euch sagen muss.«
Annie sah zu mir hoch. Ihr Pony war mit einer rosa Haarspange oben auf dem Kopf festgemacht – wahrscheinlich das Werk von Lizzies Tochter –, und sie ähnelte immer mehr Paige. »Was?«
»Nun, ihr kennt eure Mama Paige?«
Beide nickten, und Annie sagte: »Natürlich, du Dummi.«
Ich zwang mich zu lächeln. »Natürlich … Und, na ja, als Daddy gestorben ist, waren sie und ich … verschiedener Meinung … wo ihr zwei wohnen sollt. Sie fand, dass ihr bei ihr wohnen sollt, und ich fand, dass ihr bei mir bleiben sollt. Und wenn zwei Menschen sich nicht einigen können, gehen sie manchmal an einen Ort, der Gericht heißt, und reden dort so lange darüber, bis eine Entscheidung getroffen wird. Und heute Morgen … wurde entschieden, dass ihr beide jetzt bei Mama Paige wohnen sollt.«
»Warum?«, fragte Zach. Er hatte die pummeligen Beinchen hin und her baumeln lassen und dabei mit den Füßen an die Holzverkleidung der Veranda gekickt, doch nun hörte er auf und sah mich an. Das Wassereis lief ihm am Handgelenk und Arm hinunter, tropfte auf seine Jeans.
Weil ich es vermasselt habe. Weil ich nicht genug um euch gekämpft habe. Weil ich vielleicht nicht das getan habe, was eine richtige Mutter getan hätte
.
»Weil …«, sagte ich, »… da Mama Paige euch geboren hat, will sie jetzt mehr Zeit mit euch zusammen verbringen als bisher.«
»Warum? Weil ich in ihrem Bauch war?«
»Weil sie dich liebt. Und du ihr wirklich sehr gefehlt hast.«
Schließlich sprach Annie. »Und du? Du liebst uns auch.«
»Ja.« Ich schluckte. »Ich liebe euch ganz ganz doll. Und ich werde euch sehr vermissen.«
»Bist du traurig?«
Ich nickte. »Aber … Du und Zach habt ein wundervolles neues Abenteuer vor euch. Ihr werdet in dem großen, schönen Haus eurer Mama wohnen, in dem jeder ein eigenes Zimmer hat, und mit vielen neuen Freunden spielen. Und ich werde euch besuchen kommen.«
»Besuchen? Wie Nana Beene uns besucht?«, fragte Zach.
»Ja, so ungefähr.«
Er riss die Augen weit auf, und sein bebendes, klebriges Kinn verkrumpelte zu einer Kraterlandschaft. Ich zog ihn an mich und drückte ihn fest.
»Ohne mich«, sagte er.
Annie sagte: »Du hast es versprochen!« Ihre Stimme zitterte, und eine Träne rollte über ihre Wange. »Du hast gesagt, dass du uns niemals verlässt! Du hast gelogen!«
»Annie, ich habe nie gewollt, dass das passiert. Ich liebe euch. Ich verspreche es. Ich –«
»Versprich mir nie
wieder
was!« Sie schleuderte ihr Eis weg, sprang auf die Füße und rannte zur Tür, doch kurz davor drehte sie sich um. Tränenüberströmt und mit hängenden Armen stand sie da und sah mich an. »Du hast es mit deinem kleinen Finger versprochen! Du hast gesagt, dass du niemals weggehst, niemals!«
»Komm zu mir, Banannie.« Sie kam zurück, warf sich an mich, und alle drei kauerten wir aneinandergeklammert auf der Veranda. Zach heulte jetzt auch.
»Ich will nicht mehr tapfer sein«, stieß Annie zwischen ihren Schluchzern hervor.
Ich strich ihr sanft übers Haar. Zwei Wolken trieben am Horizont, blütenweiß wie Taufkleider. »Du kannst ruhig weinen«, sagte ich. »Und du kannst wütend sein. Das heißt nicht, dass du nicht tapfer bist.«
Wenn ich heute unseren Abschied in Gedanken Revue passieren lasse, sehe ich ihn noch immer in Zeitlupe vor mir, wo doch in Wirklichkeit alles ganz schnell gegangen war. Denn Richter Stanton schien an den Nutzen der Methode, ein Pflaster mit einem Ruck abzureißen, auch im übertragenen Sinne zu glauben. Aber Menschen sind nun mal keine Pflaster.
Zwei Tage später, einen Tag vor Annies siebtem Geburtstag, der tief hängende Morgenhimmel war kalt und grau, stand Paige in einem blaugrünen Seidenkleid und Pumps in der Einfahrt und machte Türen und Kofferraum ihres Autos auf. Im Haus nahmen Annie und Zach Abschied, wurden geküsst und gedrückt und küssten und drückten: Marcella und Joe senior, David und Gil, Lucy, Frank, Lizzie, Callie, Ding Eins und Ding Zwei. Dann standen sie beide vor mir und sahen erwartungsvoll zu mir hoch. Marcella hatte uns ihren breiten
Weitere Kostenlose Bücher