Die andere Seite des Glücks
meinen Mund, wartete auf das nächste Stichwort. Ich öffnete den Mund, sagte: »Euer Ehren? Darf ich etwas sagen?« Mein Herz schlug so laut in meinen Ohren, dass ich kaum meine eigene Stimme hörte.
Der Richter, der trotz seines recht jungen Alters – wohl Ende vierzig – schon fast kahl war, lächelte etwas amüsiert. »Nein. Das sollte Ihre Anwältin für Sie tun.«
»Aber Euer Ehren«, sagte ich. »Es gibt Beweise, die ich übergeben muss.«
»Und warum wollen Sie das tun, Ms Beene? Frau Rechtsanwältin, ich denke, Sie gehen lieber mit Ihrer Klientin hinaus in den Gang, bevor sie –«
»Weil sie die Wahrheit enthalten«, sagte ich. Gwen packte meinen Arm. »Und ich will, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe Paiges Briefe gefunden.«
Marcellas Stimme durchschnitt die Luft. »Jesus, Maria und Josef!«
Paiges Anwalt erhob sich. »Entschuldigung, Euer Ehren, wir hatten um die Aushändigung dieser Briefe gebeten, und Ms Beene hatte in Kenntnis der Strafbarkeit einer falschen eidesstattlichen Versicherung ausgesagt, dass keine Briefe existieren.«
Gwen erhob sich ebenfalls. »Frau Rechtsanwältin, ist es richtig, dass Ihre Klientin gebeten wurde, diese Briefe auszuhändigen?«, fragte der Richter.
»Euer Ehren, ich habe die Briefe noch nicht gesehen. Ich wusste nicht, dass meine Klientin sie gefunden hat.«
»Ms Beene, wo sind diese Briefe? Und wann haben Sie sie gefunden?«
»Sie sind bei mir zu Hause. Ich habe sie Samstagnacht gefunden. Euer Ehren, ich finde nach wie vor, dass mein Zuhause der beste Ort für Annie und Zach ist. Aber ich will nicht, dass die Entscheidung dafür auf einer Lüge gründet.«
Der Richter stieß einen Seufzer aus. »Ms Beene. Sie sehen anscheinend zu oft
Law and Order
. Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, darüber mit Ihrer Anwältin zu sprechen? Wie weit weg wohnen Sie?«
Ich erklärte, dass ich etwa eine halbe Stunde von hier entfernt wohnte.
»Ich will, dass Sie diese Briefe Ihrer Anwältin übergeben. Ich will ebenfalls, dass Sie Ihre Anwältin für Sie sprechen lassen. Dafür bezahlen Sie sie.« Er wandte sich an Gwen und forderte sie auf, allen Beteiligten Kopien zukommen zu lassen.
Der Richter winkte die Justizangestellte zu sich, die in ihrem Buch blätterte und etwas sagte. Der Richter nickte, und sie setzte sich wieder hin.
»Meine Mitarbeiterin sagte mir gerade«, erklärte er, »dass in dem Fall, der nachher verhandelt werden sollte, eine Einigung erzielt wurde, so dass ich heute Nachmittag Zeit habe. Ich werde mir eventuelle Einwände anhören, diese Briefe als Beweismittel zuzulassen.« Er richtete das Wort an Paiges Anwalt. »Wenn Sie wollen, ziehe ich eine Vertagung in Betracht.« Sein Hammer knallte dumpf, und er bestellte uns alle für vierzehn Uhr zurück in den Gerichtssaal.
Ich sank auf den Stuhl, sah weder neben noch hinter mich. Gwen schloss ihre Aktentasche und sagte leise: »Also ich würde sagen, damit ist der todsichere Fall gestorben.«
Paige und ihr Anwalt waren schon gegangen, als wir den Gerichtssaal verließen. Im Flur kam Marcella auf uns zu. »Was ist los, Ella? Glaubst du, die Regierung weiß besser, was für Annie und Zach gut ist? Diese Leute reißen Familien auseinander. Wenn du nicht aufpasst, stecken sie unsere Babys irgendwo am Ende der Welt hinter Stacheldraht.«
Ich wollte ihr versichern, dass sie sich keine Sorgen machen musste, dass der Richter immer noch zu unseren Gunsten entscheiden würde. Ich wollte sagen, dass ich meine Kinder großziehen werde, ohne ein beschämendes Geheimnis vor ihnen verbergen zu müssen. Ein Geheimnis, das doch irgendwie Einlass in ihr Unterbewusstsein finden und dort still und beharrlich einen verheerenden Schaden in ihrer Seele anrichten würde. Ein Geheimnis, das ihre gesunde Entwicklung womöglich behinderte oder sie blind machte, so dass sie nur noch das sehen konnten, was sie sehen wollten. Und ich wollte ihr und dem Rest der Familie sagen, wie sehr ich sie alle liebte und brauchte, dass ich das nicht getan hatte, um ihnen weh zu tun.
Doch stattdessen murmelte ich nur, dass es mir leidtäte, und ließ mich von Gwen Alterman an ihnen vorbeiführen, zur Tür hinaus und in die Cafeteria, wo ich Lucy anrief und bat, die Briefe in meinem Haus zu holen und sie mir zu bringen.
»Bist du sicher?«, fragte sie. Als ich nichts erwiderte, sagte sie, dass sie in etwa einer Stunde im Gericht sein werde.
Lucy brachte die Briefe. Sie nahm mich in die Arme, drückte mich lang und fest und
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