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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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nur guten Tag sagen, hoffte aber insgeheim, dass sie mich und Barkley ins Haus bitten, mir Limonade und Reisplätzchen anbieten und Fotos von ihrer Kindheit in Iowa zeigen würde, von der sie uns in der Klasse erzählt hatte.
    Miss McKenna hatte im Morgenmantel die Tür geöffnet, offensichtlich überrascht, mich zu sehen, denn sie errötete. Sie sagte, dass sie sich gerade hinlegen wollte, weil bei ihr wohl eine Erkältung im Anzug sei und sie sich ausruhen müsse, es aber nett von mir sei, ihr guten Tag zu sagen. Den blauen Transporter meines Vaters, der ein Haus weiter auf der Straße parkte, nahm ich erst wahr, als Barkley an der Tür hochsprang. Auf der Ladefläche lagen noch Latten für den hübschen Zaun, den mein Vater gerade um unseren Vorgarten baute. Ich hatte ihn nie gefragt, warum sein Auto an jenem Sonntag – oder am darauffolgenden – in Miss McKennas Straße gestanden hatte. Oder warum wir beide nie mehr campen gingen, nie mehr auf der Olympic-Halbinsel wanderten und dabei die Namen von Pflanzen und Vögeln und Insekten aufschrieben, die wir sahen. Wenn er jetzt am Wochenende sagte, er müsse zum Baumarkt fahren, ging ich mit Barkley spazieren, immer mit meinem Harriet-die-kleine-Detektivin-Notizbuch in der Hand und seinem Fernglas um den Hals. Und obwohl mein Vater immer mit hastig gekauften Materialien für irgendeine Reparatur im Haus zurückkam, wusste ich, dass noch etwas ganz anderes repariert werden musste.
    Und eines Samstags, als sein Wagen wieder in der Straße nahe ihres Hauses parkte, machte ich leise das kleine Seitentor von Miss McKennas Hintergarten auf und spähte in ein offenes Fenster, und in noch eins, bis ich schließlich meinen Vater im Bett sitzen sah. Er hatte die Decke bis zum Bauch hochgezogen, las Zeitung und rauchte eine Zigarette.
    »Dolly?«, rief mein Vater. »Kannst du einem armen Kerl noch eine Tasse von deinem wunderbaren Kaffee bringen?« Als Barkley die Stimme seines Herrchens hörte, machte er seinem Namen alle Ehre – er bellte.
    »Was zum Teufel … Barkley? Ella? Was zum Teufel …?«
    Unsere Blicke trafen sich, und erst jetzt, als ich meiner Mutter die Geschichte erzählte, wurde mir bewusst, dass sich dieser eine Blick meines Vaters für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hatte – die Panik in seinen Augen, den Schreck, die Traurigkeit und die Scham hatte ich nie vergessen.
    »Jelly, warte … warte …« Aber da hatte ich schon das Gartentor erreicht, das vor meinen Tränen verschwamm, riss es auf und rannte weiter, zog Barkley hinter mir her, auch wenn es sonst immer umgekehrt war. Ich rannte und rannte, bis ich nicht mehr konnte, dann ging ich weiter, bis es dunkel wurde. Als ich schließlich nach Hause kam und die Verandastufen hinaufging, wartete meine Mutter auf der Hollywoodschaukel. Die Glut ihrer Zigarette spiegelte sich im Fenster, als wären es zwei Zigaretten, ihre und die meines Vaters und nicht nur ihre allein. Sie sprang auf und fragte, wo ich gewesen sei, sagte, dass sie sich Sorgen gemacht und die Polizei angerufen habe, und ich hatte die Schultern gezuckt und geantwortet: »Nirgends.« Sie hatte mich in die Arme genommen und an sich gedrückt, sie hatte mir die Haare hinters Ohr geklemmt und mir gesagt, dass mein Vater im Himmel sei.
    »Also«, sagte ich zwischen Schluchzern meiner Mutter am anderen Ende der Leitung, »war
ich
es. Mein Rumschnüffeln hat zu seinem Herzinfarkt geführt – ihn buchstäblich zu Tode erschreckt.«
    »Ella«, sagte meine Mom, und ich konnte beinahe hören, wie sie ihre Gedanken sortierte. »Es tut mir so leid, dass du das gedacht hast. All die vielen Jahre. Mein Schatz, du bist Wissenschaftlerin, sieh dir die Beweise an: Der Mann hatte mehr als zwei Päckchen Zigaretten am Tag geraucht, er hatte Butter und Schinkenspeck und Sahne geliebt und offensichtlich eine Zwanzigjährige ordentlich durchgevögelt. Nichts davon war deine Schuld oder meine, was das betrifft.«
    Ich verstand, dass sie recht hatte, und konnte – indem ich endlich ausgesprochen hatte, was ich wusste – nun auch die Dinge sehen, die ich als Kind nicht gewusst hatte – nicht hatte wissen können.
    Meine Mutter sagte: »Es tut mir ja so leid. Ich hätte wissen sollen, dass deine große Veränderung nach seinem Tod mehr war als … ich … wollte nur … So war es einfacher für mich. So warst du einfacher für mich. Und all die Gespräche über deinen Vater kamen mir vermutlich immer so vor, als würde er wieder ausgegraben. Du weißt ja,

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