Die andere Seite des Glücks
David? Ganz bestimmt nicht. Marcella. Um Himmels willen, nein. Gwen Alterman? Auf keinen Fall.
Sie alle würden wegen der Briefe ausflippen und mir – wie David – raten, sie zu verbrennen. Oder aber sie draußen in Bodega ins Meer zu werfen.
Am übernächsten Morgen brachte ich Annie, Zach und die Kätzchen samt Korb früh zu Marcella. Danach fuhr ich jedoch nicht weiter in den Laden, sondern nach Bodega Head. Ich hatte die Briefe mitgenommen und wollte nachdenken, ganz allein zu einer Entscheidung kommen. Als ich am Friedhof vorbeikam, hielt ich nicht an.
Mein Auto war das einzige auf dem Schotterparkplatz. Wie damals die Grüne Hornisse, als Frank und ich sie zurückließen, an jenem furchtbaren ersten Sommertag. Jetzt verhüllte eine dicke Nebelbank die Sicht. Ein Silberreiher stand im Eiskraut am Rande des Kliffs, der weiße Hals wie ein Fragezeichen gebogen. Joe hatte einmal auf einen gezeigt und gesagt: »Es gibt in meinem Leben nur ein Fragezeichen.« Ich hatte gelächelt, und anstatt zu fragen, was das eigentlich sei, sagte ich: »
Casmerodius albus
.«
Ich hielt die Briefbündel in der Hand und ließ die Gummibänder rhythmisch schnappen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte das Richtige tun, aber vor allem musste es das Richtige für Annie und Zach sein. Paige war nicht einfach verschwunden, wie ich immer geglaubt hatte. Sie hatte tatsächlich den Kontakt mit ihnen gesucht, was die sechsundzwanzig Briefe eindringlich belegten. Ich versuchte, die eigennützige Tatsache, dass ich mir ein Leben ohne Annie und Zach nicht vorstellen konnte, wegzuschieben. Aber wie konnte man so eine Gewissheit ignorieren?
Ich stieg aus dem Jeep und ging mit den Briefen in der Hand zum Kliff, betrachtete das gleichförmige Plätschern der Wellen, ruhig und berechenbar. Doch die Einheimischen wussten es besser. »Kehr dem Meer niemals den Rücken zu«, hatte er den Kindern und mir immer und immer wieder gesagt. Und dann hatte er genau das getan, hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf das Kliff im Morgenlicht gerichtet und dabei vollkommen außer Acht gelassen, dass eine Welle von hinten kommen und ihn ins Jenseits befördern konnte.
Ein schwarzer Ford Explorer hielt auf dem Parkplatz; ein Mann, eine Frau und auf dem Rücksitz vier Kinder. Die Frau schrie gerade. Ich konnte die Worte durch die geschlossenen Fenster nicht verstehen, doch ich sah ihr verzerrtes Gesicht und die Faust, mit der sie immer wieder auf das Armaturenbrett schlug.
Der Mann stieg auf der Fahrerseite aus. Er war schlank und gut gekleidet, in Khakihosen und Poloshirt. Er blickte hinaus aufs Meer, streckte sich, ging dann ums Auto herum und öffnete die Heckklappe. Er nahm einen Sechserpack Pepsi aus der Kühltasche, löste die Dosen nacheinander aus der Plastikhalterung und stellte sie zurück in die Kühltasche. Dann riss er die einzelnen Plastikringe auseinander, was ich zunächst für ökologisches Bewusstsein hielt, bis er sie einfach auf den Boden fallen ließ.
Eines der Kinder, ein etwa acht oder neun Jahre altes Mädchen, drehte sich auf ihrem Sitz herum und sah ihm zu. Er blickte es an, doch niemand sagte ein Wort. Dann ging er mit einer Pepsi in der Hand zur Beifahrertür, zog sie auf und gab der Frau die Dose. Er holte ein braunes Medikamentenfläschchen aus der Hosentasche, schüttelte eine Pille in seine offene Hand und hielt sie ihr hin.
Die Frau nahm die Pille und schluckte sie.
Der Mann ging zurück zum Kofferraum, und als er die Klappe schließen wollte, sah er, dass das Mädchen in meine Richtung blickte, mit ihren Augen zu mir sprach. »Haben Sie nichts Besseres zu tun?«, fragte er mich über die Schulter hinweg.
Erst da wurde mir bewusst, dass ich stehengeblieben war und sie ungeniert anstarrte. »Tut mir leid«, murmelte ich, drehte mich um und ging zurück zum Auto. Die Briefe, die ich noch immer in der Hand hielt, wogen jetzt schwer wie eine Leiche.
Auf dem Rückweg sah ich nichts anderes als die Augen des kleinen Mädchens. Den wissenden Blick eines Kindes. Ich fuhr direkt nach Hause, nahm das Telefon mit auf die Veranda und rief meine Mutter an. Doch ich sagte ihr nichts von den Briefen.
»Erzähl mir von Daddy«, sagte ich.
Schweigen trat ein, doch damit hatte ich gerechnet. Dann sagte sie: »Nun, Jelly, was willst du denn wissen? Ich meine, wir haben über die Jahre immer wieder von Daddy gesprochen. Ich glaube, ich habe dir –«
»Du hast mir gesagt, was für ein großartiger Vater er war. Ich möchte,
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