Die andere Seite des Glücks
wie das ist: Lass die Toten perfekt sein. Das ist alles, was sie noch haben.«
»Und ich fange an zu verstehen … dass Perfektion eine Last ist, die keiner tragen kann, weder die Toten noch die Lebenden.«
Mein toter perfekter Vater. Mein toter perfekter Ehemann. Nicht länger perfekt in meinen Augen. Ich wusste, dass ich sie in gewisser Weise beide befreit hatte und sogar anfing, mich selbst freier zu fühlen. Doch ich hatte noch einen langen Weg vor mir.
»Ich wünschte, du hättest mir das schon damals erzählen können, Jelly. Das hast du alles für dich behalten?« Ich sagte, ich müsse jetzt Schluss machen, dass die Kinder gerade ins Zimmer gekommen seien, was nicht stimmte. Ich stand auf der hinteren Veranda und atmete tief ein und aus. Callie hatte wohl gerade ihre letzte Ausgrabung beendet, denn sie kam angesprungen, rieb ihre schmutzige Nase an meinem Bein und wedelte heftig mit ihrem Schwanz.
Ich ging und holte ein altes Handtuch, um ihr die frische Erde von Schnauze und Pfoten zu wischen.
23. Kapitel
Welcher Teufel hatte mich denn da geritten? Hatte ich nicht genug Entscheidungen im Hier und Jetzt zu treffen, musste ich auch noch schmerzliche Erinnerungen aus der Vergangenheit ausgraben? Ich sollte mich auf die Briefe konzentrieren und versuchen, den ganzen Mist aus der Welt zu schaffen, den wir Joe zu verdanken hatten, anstatt auf die schlichte Tatsache zu stieren, dass mein Vater vor fast dreißig Jahren meine Lehrerin gevögelt hatte.
Ich rief Lucy an und erzählte ihr von den Briefen. Lucy stieß einen Pfiff aus. »Was steht drin?«
Ich sagte, dass ich sie noch nicht gelesen hatte, was sie unfassbar fand. »Sie sind nicht an mich adressiert. Außerdem fällt das unter Manipulation von Beweismitteln. Wenn –«
»Wenn du sie dem Gericht übergibst, was du nicht tun wirst.«
»Aber dann unterdrücke ich Beweismittel.«
»Pass auf. Ich kann zu dir kommen. Ich kann sie öffnen, wenn es sein muss. Aber du musst wissen, was drin steht. Ich kenne den wahren Grund, warum du die Briefe nicht aufmachen willst, und das hat nichts mit dem Brechen von Gesetzen zu tun, Ella, und das weißt du auch. Es geht darum, dass sie dir das Herz brechen könnten. Und allen anderen in dieser Stadt auch.«
»Es geht um so viel«, sagte ich zu schnell, zu abwehrend. Doch Lucy kannte mich zu gut. Ich sagte, ich würde darüber nachdenken.
Später, als ich in der Küche Geschirr spülte und Marcella es abtrocknete, erzählte ich ihr von den Briefen. Sie hielt ein Glas hoch gegen das Licht, polierte es noch einmal und stellte es in den Schrank, bevor sie sich mir zuwandte und sagte: »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass mein Joey diese Briefe versteckt hätte. Paige war in deinem Haus. Und als ich an dem Tag nach Tante Sophia sehen musste, war sie allein mit den Kindern! Die Frau hat die Briefe da versteckt, das ist so naheliegend wie eine leergeräumte Grabkammer.«
»Marcella, sie sind abgestempelt.«
Sie warf die Arme in die Luft, wobei das Fett wabbelte wie ein nachklingender Gedanke. »Heutzutage können sie alles mit dem Computer machen. Das heißt gar nix. Hast du sie gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ella, sie hat meine Enkelkinder allein gelassen, als sie noch Babys waren. Zach war erst zwei Monate alt. Er hatte noch die Brust gekriegt! Hast du eine Ahnung, wie viel er in diesen ersten Wochen geschrien und geweint hat, weil wir versuchten, ihn an die Flasche zu gewöhnen? Sein Schreien werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. Sie hat kein Mutterrecht. Du bist ihre Mutter. Und jetzt verhalt dich auch so. Und red nicht über deinen Mann, als wäre er ein Lügner und Verbrecher gewesen!«
Sie drehte sich um und ging hinaus. Joe senior, der mit den Kindern die Hühner gefüttert hatte, gerade zur Küchentür hereingekommen war und noch den Rest gehört hatte, sagte: »Ella, ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Aber ich weiß nicht, wie Marcella es schaffen soll, morgens aufzustehen, wenn sie nach Joe auch noch unsere zwei
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verliert. Es gibt Grenzen, was ein Mensch verkraften kann. Für eine Familie trifft das genauso zu.« Er fuhr seufzend mit der Hand über seinen kahlen Kopf. »Meinen großen Bruder haben wir im Krieg verloren.« Er hielt inne. »Selbst meinen Papa – für eine Weile.«
»Aber er ist zurückgekommen.«
»Stimmt. Aber nicht so, wie er gegangen war. Er kam als ein anderer zurück.« Er legte die Hand auf meine Schulter. »Und es ist nicht nur Sergio passiert,
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