Die andere Seite des Glücks
diese Stadt gekommen, zu diesem Mann und seinen Kindern, diesem Haus und diesen Bäumen. Ich war in den verlorenen Schatz einer anderen gestolpert. Nein, in den
verlassenen
Schatz, den zurückgelassenen.
Ich hatte ihn nicht gestohlen, doch zurückgeben wollte ich ihn auch nicht. Wie hatte damals mein Unterbewusstsein argumentiert? Dein Verlust, Lady, ist mein Gewinn? Und was hatte ich unter der Oberfläche wahrgenommen, das ich nicht mit einer simplen Frage ans Tageslicht bringen wollte? Weil ich meine eigenen Ängste hatte. Weil ich Angst hatte vor ehrlichen, aber komplexen Antworten und mich bereitwillig mit dem schulterzuckenden: »Sie ist gegangen und kommt nie mehr zurück« zufrieden gab.
Halt! Es hatte keinen Zweck, sich mit Fragen abzulenken, wer wohl die rechtmäßige Besitzerin weggeworfener Löffel und Gabeln war, von Land und Bäumen, einem Haus, einem Garten. Ich konnte meine Kinder nicht länger als meine eigenen beanspruchen. Sie hatten noch eine Mutter, die sie ebenfalls liebte. Eine Frau, die womöglich nicht fair behandelt worden war. Ich sah wieder zum Haus und versuchte es mir ohne Annie und Zach vorzustellen. Der Boden unter mir wankte bedrohlich, und ich griff nach dem Gartentorpfosten und hielt mich und mein schönes Leben daran fest.
28. Kapitel
Lizzie kam und holte die Kinder ab. Ich zog mich an, um zum Gericht zu fahren. Das Bündel Briefe in meiner Handtasche holte ich mehrmals wieder heraus, um es wenig später wieder reinzustecken. Die ungeöffneten Briefe an Annie und Zach lagen in der Schublade meiner Kommode. Was auch immer passierte, sie gehörten den Kindern und nicht dem Gericht. Paige hatte ihre Briefe an Joe eingeklagt und versäumt, die an Annie und Zach mit einzubeziehen.
Ich griff ein letztes Mal zum Telefon und rief meine Mutter an. Nachdem ich ihr erzählt hatte, was in Paiges Briefen stand, sagte sie: »Es ist nicht fair, dass du dich in deiner Situation jetzt auch noch damit auseinandersetzen musst, Ella. Willst du meine Meinung hören? Ich finde, dass jede Frau so eine Falltür wie meine Großmutter unter dem Küchenteppich haben sollte.«
»Willst du damit sagen, ich sollte auch unter die Schwarzbrenner gehen?«
»Ich will damit sagen, dass du bei allem, was du tust, an die Kinder denken musst. Auch wenn es bedeutet, dass du gegen das Gesetz verstößt.«
»Mom. Annie und Zach sollen nicht in dem Glauben aufwachsen, dass ihre Mutter sie nicht wollte. Wenn ich die Briefe nicht dem Gericht übergebe, was dann? Ich würde eine Lüge leben. Selbst wenn ich sie ihnen eines Tages zeigen würde, wüssten sie, dass ich Beweise zurückgehalten habe, die belegten, dass ihre Mutter das Sorgerecht wollte. Ich glaube nicht, dass ein Richter aufgrund der Briefe – falls ich sie übergebe – seine Meinung ändert. Ihr Leben ist hier bei mir und der Familie Capozzi.«
»Das glaubst du … aber das weißt du nicht.«
»Okay, und folgendes weiß ich: Du willst, dass ich sie ›schütze‹, indem ich lüge. Indem ich ihnen Informationen vorenthalte, die ihnen helfen würden zu verstehen, dass sie keine
Schuld
am Weggehen ihrer Mutter hatten? Dass sie keinen Grund haben, sich schuldig zu fühlen oder zu schämen?«
»Über wen reden wir hier eigentlich?« Sie hielt inne: »Jelly, ich weiß, warum du aufgebracht bist.«
Als ich nichts erwiderte, sagte sie: »Ich nehme ein Flugzeug und komme zu dir.« Ich sagte, sie solle damit warten, dass ich sie vielleicht später noch mehr brauchen könnte.
Ich ging ohne das Briefbündel zum Jeep, eilte dann aber über die Verandatreppe zurück in den Flur und zur Küche, wo ich sie vom Tisch nahm. Dabei stieß ich die Pfeffermühle um, die runterrollte und krachend auf dem Boden landete. Ich hob sie auf und stellte sie zurück auf den Tisch, betrachtete sie einen Moment lang. Joes Lieblingspfeffermühle. Wollte er mir etwas sagen? Fing er jetzt an zu reden? Ich wartete, doch sie rührte sich nicht. Ich schüttelte den Kopf, um zumindest ein bisschen Logik zurück an ihren Platz zu befördern.
Ich schaffte es mit den Briefen bis zur Tür, aber bei jedem Schritt den Flur entlang hatte ich Geschrei und Gelächter und Weinen im Ohr, die wundersame Ausdrucksvielfalt von Annie und Zach, und ich beschloss, dass ich das Ehrliche und Richtige doch nicht tun konnte. Sosehr ich es auch wollte, ich konnte es nicht. Ich legte die Briefe in die Nachttischschublade, und diesmal fiel Joes Foto vornüber. »Hör auf«, sagte ich laut. »Mach das nicht«,
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