Die andere Seite des Glücks
und ich eilte hinaus zum Auto, bevor ich erneut meine Meinung ändern konnte.
Ich fuhr an dem Weinberg vorbei, der noch vor wenigen Wochen hellgelb gewesen war und dessen Blätter jetzt orange und feuerrot leuchteten. Ein Mann stand mit dem Rücken zur Straße, die Hände in den Taschen, und blickte zu den Hügeln, als hätte er selbst sie angezündet und betrachte nun sein Werk.
Als ich im Gerichtsgebäude die Sicherheitsschleuse sah, war ich froh, die Briefe zu Hause gelassen zu haben. Aber es waren Briefe, keine Schusswaffe. Und doch, hätte ich sie in meiner Tasche gehabt, wären es machtvolle Waffen gewesen.
Ich setzte mich ans Ende der Stuhlreihe vor dem Gerichtssaal und wartete. Gwen Alterman kam durch den Flur auf mich zugeeilt, scheinbar unzufrieden mit ihren kurzen Beinen, deren Oberschenkel in dem kastanienbraunen Hosenanzug aneinanderrieben. Sie sagte: »Ich habe bereits mit Paiges Anwalt gesprochen. Wie ich Ihnen schon sagte, würden sie gern eine Vereinbarung über ein eingeschränktes Besuchsrecht treffen sowie die Möglichkeit einer Erweiterung, wenn die Kinder älter sind.«
»Wie viele Besuche?«, fragte ich.
Sie setzte die Lesebrille auf und überflog das Dokument. »Viermal im Jahr ein ganzes Wochenende, zwei Wochen im Sommer und eine Woche während der Weihnachtsferien.« Sie zuckte die Schultern. »Mehr nicht. Aber sie möchte, dass sie in ihr Haus kommen. Darauf besteht sie – und ist sogar bereit, hierherzufliegen und sie abzuholen.«
Paige saß weiter unten an der Wand. Sie hatte sich zu ihrem Anwalt vorgebeugt, einem hochgewachsenen, älteren Herrn mit roter Fliege und Nickelbrille, der ihr gerade etwas sagte.
»Lesen Sie sich die einzelnen Klauseln durch und unterschreiben Sie gleich. Dann können wir vor den Richter treten und sagen, dass beide Parteien zu einer Einigung gekommen sind. Wir werden die Vereinbarung vor Gericht verlesen, Sie werden gefragt, ob Sie zustimmen, und sagen ja. Das ist dann alles, und Sie gehen nach Hause zu Ihren Kindern. Abgesehen davon, sparen Sie eine Menge Geld«, fügt sie noch hinzu.
Paige hatte schon unterschrieben, ihr Namenszug kreuzte schwungvoll die Unterschriftslinie; ihre Handschrift kannte ich jetzt. Ich unterzeichnete das Dokument. Ein paar Minuten später steckte Gwen Alterman den Kopf aus der Tür von Gerichtssal J und winkte mich hinein. In der hintersten Reihe saßen Joe senior, Marcella und David. Ich hätte gern geglaubt, dass sie zu meiner Unterstützung hier waren, doch sie wollten sich bestimmt nur versichern, dass ich das Richtige tat.
Paige betrat den Raum. Sie ging sehr gerade, als balanciere sie ein Buch auf dem Kopf. Doch nun erkannte ich in ihrem Auftreten die tapfere Fassade, die sie in der Öffentlichkeit zur Schau stellte. Auch die ungeschminkten Augen verrieten ihren Kummer. Ich wusste, was mascaralose Tage bedeuteten.
Als wir aufgerufen wurden, setzten wir uns an den dunklen Furniertisch vor der Richterbank. Paiges Anwalt verlas die Vereinbarung mit ruhiger, freundlicher Stimme, die in dem Gerichtssaal merkwürdig fehl am Platz wirkte – sie schien eher geeignet für Märchen mit glücklichem Ausgang –, da sie Worten wie Sorgerecht, Antragstellerin und Besuch ihre Schärfe nahm. Und wenn ich nur den Mund hielt, wären alle glücklich bis an ihr Lebensende. Ich starrte auf die gelangweilt wirkende Gerichtsstenographin, die mitschrieb, was der Anwalt vorlas. Sie bot den einzigen sicheren Ort, an den ich meinen Blick heften konnte. Nicht an Paige mit den Tränen in den Augen, nicht an den Richter, der womöglich die Schuld in meinem Gesicht sehen konnte. Nicht hinter mich zu den selbsternannten Aufpassern der Familie Capozzi.
Paige stand zuerst auf. Sie hob ihre Hand, wurde vereidigt und stimmte der gerichtlich protokollierten Vereinbarung zu. Und dann war ich an der Reihe. Ein Schweißtropfen lief mir den Rücken hinab, als ich mich mit zittrigen Beinen erhob.
Ich hielt die Hand hoch. Ich sah Marcellas erhobene Hand, die mir eine Ohrfeige verpasste, um mich zur Vernunft zu bringen. Ich sah Großmutter Beenes erhobene Hand, die mir eine Ohrfeige verpasste, damit ich mich schämte. Ich würde Annie oder Zach niemals schlagen. Und doch machte ich mit meiner erhobenen Hand nichts anderes; ich schloss mich all jenen an, die Schweigen zum obersten Gebot machten und so die wichtige Wahrheit vor Annie und Zach verheimlichen wollten.
Ich musste nur sagen: »Ja, ich bin«, und »Ja, ich tue.« Ich sagte ja. Ich schloss
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